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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Nur sah sie damals, vor einem Jahr
zum Beispiel, ganz anders aus. Das hier sind ja nur noch Knochen, aber
damals hatte sie noch Fleisch und Haut und Augen und Haare, nicht wahr?«
    Fritz sah den Kommissar ungläubig an, schüttelte den Kopf.
»Was denn nur für eine Leiche?«
    »Na, die Anna.«
    »Das soll die Anna sein?« fragte Fritz jetzt lebhaft und
blickte wieder auf die Leiche nieder.
    Der Kommissar befahl, daß man ihm die Hände aufbinde. Der
Strick war feucht von Schweiß und knotete sich nur schwer auf. Allen
dreien rann der Schweiß in Strömen den Körper entlang, nur mit Mühe
konnte der Kommissar das Verhör in der drückenden Luft zu Ende führen.
    »Knien Sie nieder!« befahl er jetzt.
    »Was soll ich?«
    »Niederknien!«
    »Das tu ich nicht.«
    »Widersetzen Sie sich nicht, je schneller Sie gehorchen, desto
besser wird es Ihnen gehen«, sagte der Kommissar und drückte Fritz an
den Schultern nieder. Fritz kniete vor der Leiche.
    »Fassen Sie die Schuhe an«, befahl der Kommissar. Fritz
gehorchte. »Sehen Sie sie genau?«
    »Ja.«
    »Sind das die Schuhe, die die Anna B. bei ihrem Verschwinden
getragen hat?«
    Fritz zog seine Hand von den Schuhen fort und sagte: »Das weiß
ich nicht mehr.«
    »Fassen Sie das Kleid an! Betrachten Sie es genau! Wie ist es?«
    »Rotes Zeug.«
    »Betrachten Sie es genau. Wie ist es noch?«
    »Es ist auch Grün darin.«
    »Sind die Farben gestreift?«
    »Nein, das ist gewürfelt.«
    »Erinnern Sie sich, daß die Anna B. ein solches Kleid getragen
hat?«
    »Ja, dessen erinnere ich mich.«
    »Heben Sie den Rock des Kleides hoch.«
    Fritz gehorchte. Ein rosafarbener Unterrock mit weiß
gesticktem Bogenrand kam zum Vorschein.
    »Erkennen Sie auch diesen Unterrock als den der
Anna B. wieder?«
    »Das weiß ich nicht, ich habe sie nie ausgezogen.«
    »Sie bestreiten also, daß die Leiche, die da vor Ihnen liegt,
die der Anna B. ist?«
    »Das kann ich nicht wissen, sie hat doch kein Gesicht.«
    »Nun, wir sind aber alle überzeugt, daß das die arme kleine Anna ist,
und Sie können es auch ruhig glauben, daß sie es ist. Sind Sie nun
nicht traurig darüber, das kleine Kind, das so lieb und heiter war und
gegen alle so freundlich, daß Sie das nun so hier wiedersehen?«
    »Das ist schon so lange her, daß sie weg war.«
    »Ja, aber Sie erinnern sich doch an sie. Sie haben doch viel
mit ihr gespielt«
    »Ja.«
    »Nun, und das hier erschüttert Sie gar nicht?«
    »Das hier erkenne ich gar nicht. Es hat kein Gesicht.«
    Der Kommissar verstummte und überblickte noch einmal die
kniende Gestalt des Jungen. Er hielt sich ruhig und lässig, die Hände
lagen leicht auf den Oberschenkeln, der Kopf über dem gerade
gehaltenen, kräftigen Rücken war ein wenig nach vorn geneigt, der
jugendliche, rosig-braune Nacken, die reichen, blonden Haare, die zart
geröteten Ohren, alles war matt angeleuchtet von dem einfließenden,
wolkig trüben Licht. Die Augen hielt er, mit dem Blick auf seine Knie
und auf die schmale Spur Bodenstroh, die zwischen ihm und der Leiche
lag, gerichtet, so tief und ruhig gesenkt, daß sie geschlossen
schienen. Er glich einem trotzigen, aber völlig offenen Kinde.
    »Sie können aufstehen«, sagte der Kommissar und wandte sich
dem Ausgang der Scheune zu. »Ich will im Wohnzimmer noch ein paar
Fragen an Sie richten.«
    Fritz erhob sich, klopfte die Spuren von Stroh und Erde von
seinen Knien ab, strich sich über die Hände, die jetzt erst von dem
Binden zu schmerzen begannen und rote Striemen zeigten, und folgte
ruhig, doch etwas mürrisch dem Beamten. Als sie auf den Hof kamen,
begegnete ihnen der Wirtschafter mit ein paar Knechten. Sie blieben in
einer Reihe stehen und sahen ihn an. Er steckte die Hände in die
Taschen und ging gleichmütig an ihnen vorüber. Keiner grüßte den
anderen. Als sie sich nun dem Wohnhause näherten, überfiel ihn
plötzlich die Angst, daß er dem Herrn oder seiner Mutter begegnen
könnte. Bei dem Gedanken an den Herrn zitterte er. Ja, wenn der Herr
ihm etwas tun wollte (daß man ihm etwas tun wollte, nur so empfand er
die Fragen und das argwöhnische Forschen der Polizei), dann konnte er
sich nicht dagegen wehren. Aber der Herr hatte ihm ja nie etwas getan,
war immer gut zu ihm gewesen, und die Arbeit bei ihm war doch die
schönste gewesen. Seiner Mutter aber wollte er das Geld geben, den
ersparten Lohn, den er sich in der letzten Nacht in das Hemd geknüpft
hatte. Bei diesem Gedanken beruhigte

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