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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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sagte der Kommissar, »antworten
Sie auf meine Fragen mit Nein oder Ja.«
    »Das soll keine Frechheit sein,« sagte Fritz ruhig, »aber ich
selbst kann doch nicht genau wissen, wann ich geboren bin.«
    Der Kommissar schwieg eine Weile und sah Fritz an, dann fragte
er plötzlich und scharf: »Dann weißt du wohl auch nicht, wo die
Anna B. hingekommen ist?«
    »Das weiß ich nicht, das weiß keiner,« sagte Fritz ruhig. Der
Kommissar fühlte, daß der Überfall mißlungen war und er einen Fehler
gemacht hatte. Durch diese Frage war Fritz gewarnt und mit Widerstand
gewappnet.
    »Folgen Sie mir,« sagte der Kommissar und ging voraus nach dem
Winkel zu, wo die Leiche in noch unveränderter Stellung lag. Fritz und
die Gendarmen folgten. Da der Tag trübe war und zudem die Torflügel
nicht ganz geöffnet waren, gerieten sie nach ein paar Schritten in
völlige Dunkelheit. »Rechts halten!« kommandierte der Kommissar, stieß
aber selbst nach dem nächsten Schritt heftig mit dem Kopf gegen einen
aus der Wand hervorspringenden Balken. Fritz lachte, als er den dumpfen
Knall hörte. Er kannte hier alles ganz genau, sagte aber nichts.
Endlich schimmerten nach ein paar weiteren, tappenden Schritten schmale
Streifen Lichtes aus dem Dache hernieder, und man konnte den Teil des
Raumes, der unter ihnen lag, allmählich erkennen. Fritz blinzelte nach
dem einfallenden Licht empor, »das Dach ist schon wieder entzwei«,
dachte er. Der Kommissar stand jetzt still. Alle keuchten, denn die
Luft in der Scheune ließ sie kaum atmen. Der Kommissar fragte: »Wo sind
wir hier?«
    »In Scheune vier, Fach zehn«, antwortete Fritz.
    »Du kennst es genau, was?«
    »Ja, da haben wir voriges Jahr das Dach ausgebessert, Güse und
ich. Es läßt aber schon wieder durch«, sagte Fritz und verfolgte
prüfend die Ritzen im Dach, durch die Licht einfiel.
    »Nein, mein Freund, das ist etwas anderes«, sagte der
Kommissar und gab dem rechts stehenden Gendarmen ein Zeichen. Jetzt
bemerkte Fritz, daß eine Leiter an der Wand lehnte. Der Gendarm stieg
sie empor und schob mit einer Stange, die er plötzlich zur Hand hatte,
blitzschnell ein genau viereckiges, kunstvoll ausgeschnittenes Stück
des Strohdaches zur Seite, so daß plötzlich Licht einströmte und ein
viereckiges Stück Himmel zu sehen war. Fritz verfolgte mit Staunen eine
träge sich vorüberwälzende Wolke, ihm war, als sähe er so Wolken und
Himmel zum ersten Male. Der Kommissar beobachtete auf seinem Gesicht
genau das kindliche Staunen, mit dem er das plötzlich enthüllte
Stückchen Himmel betrachtete.
    »Jetzt sieh hierher!« befahl er und wies mit der Hand zur
Erde, wo sich die Grube mit der Leiche befand, genau unter dem Viereck
des einfallenden Lichtes.
    Doch Fritz senkte nicht sofort den Blick zu Boden. Geblendet
vom Licht, blinzelte er erst in das Gesicht des Kommissars, aus dem er
unter gespielter Ruhe und Gleichmütigkeit die furchtbare Spannung des
Augenblickes wohl erkannte. Wieder fühlte er die Feindschaft der ganzen
Welt gegen sich, wieder fand er Kraft und Trotz zum Kampf. Er ließ
seinen Blick vorsichtig seitwärts zu Boden wandern, erst ins Dunkle
zurück, wo er nichts sah, dann langsam das Bodenstroh entlang, das erst
glatt und eben lag, dann aber sich langsam häufte, ein kleiner Hügel
kam, den sein Blick überstieg, dann ein kleines Tal, dann erblickte er
kleine schwarze Schuhe, etwas Rotes schimmerte auf, dann Schmutz und
Erde und dazwischen gebettet kleine weiße Stücke. Einige lagen
beisammen, als wären es Finger einer Hand, aber dann erkannte er
plötzlich den kleinen Schädel, weiß glänzend, und, von dem
einströmenden matten Licht getroffen, einen Hauch blonden Haares. Jetzt
erbebte er und trat zurück. Doch der Kommissar konnte kein anderes
Entsetzen auf seinem Gesicht entdecken als das, welches dieser Anblick
in jedem Menschen, wenn er nicht völlig roh sein sollte, hervorrufen
mußte. Ja, jetzt richtete der Mörder seinen entsetzten Blick gerade auf
ihn, voll, offen und fragend.
    »Erkennen Sie die Leiche?« fragte der Kommissar.
    »Nein, das kenne ich nicht«, antwortete Fritz leise.
    »Warum sagen Sie 'das', ich frage Sie, ob Sie die Leiche
erkennen?«
    »Das ist eine Leiche?«
    »Natürlich. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie noch
keine Leiche gesehen haben?«
    Fritz schüttelte den Kopf und schwieg.
    »Natürlich haben Sie schon eine Leiche gesehen, Sie haben
sogar schon diese Leiche gesehen.

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