Das verlorene Kind
er sich wieder.
Sie traten alle in das Wohnzimmer ein, das ganz verändert war.
Der Tisch war zum Fenster gerückt, seine schöne rote Decke war
abgenommen, und das spiegelnde Holz war mit Papieren überdeckt; Stühle
standen ringsum. Ein Schreiber saß da mit einer Feder hinter dem Ohr
und gähnte. Als der Kommissar eintrat, sprang er auf und grüßte. Der
Gendarm blieb an der Tür stehen. Der Kommissar warf seine Mütze auf das
Sofa, öffnete Rock und Weste. Sein bleiches Gesicht mit den graublauen,
matten Augen war gedunsen von der Hitze und von dem Aufenthalt in der
Scheune, auf seiner Stirn war eine große blaue Beule von dem Stoß an
die Wand. Er löste seine Halsbinde und trocknete sich mit einem
Handtuch, das an der Tür hing, den Schweiß von dem kurzen, kräftigen
Halse. »Holen Sie Wasser zum Trinken!« sagte er zu dem Schreiber.
Der Himmel war von Wolken jetzt ganz umzogen, bleigrau, von
heißem Dunst erfüllt war die Luft vor den geöffneten Fenstern. Der
Schreiber kam zurück und meldete, es sei kein rechtes Trinkwasser da,
der Brunnen sei seit drei Tagen trocken, ob er Buttermilch bringen
solle.
»Ja, nur etwas zu trinken«, sagte der Kommissar. Nach einigen
Minuten kam der Schreiber mit einer Kanne Milch und einem Glas zurück.
In dem Augenblick, als er zur Tür eintrat, setzte draußen der
erlösende, lang ersehnte Regen in Strömen ein. Der Kommissar blickte
zum Fenster und sagte: »Also, da gibt es doch Wasser!« Da lachten alle,
am fröhlichsten aber Fritz, sein Kichern trillerte über die Laute der
anderen hin. Der Kommissar trank ein Glas Milch und blickte über den
Rand des Glases auf ihn hin. Er goß ein zweites ein, reichte es ihm und
sagte: »Na also, einen Spaß verstehst du auch. Nun setze dich auch. Du
kannst dich ruhig ein bißchen ausruhen, und trink die Milch, wir haben
ja alle Durst. Nachher, wenn du dich ausgeruht hast, werde ich dich
noch ein paar Kleinigkeiten fragen, nichts anderes, als was schon vor
einem Jahr die Polizei gefragt hat.« Er rückte Fritz einen Stuhl hin.
setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich zurück, schlug die Beine
übereinander und lächelte ihn an. Draußen rauschte in machtvollen
Strömen der Regen. Feuchte Kühlung wehte in das Zimmer, alle fühlten
sich erquickt, leicht und fast glücklich.
Fritz setzte sich und hielt das Milchglas in der Hand. Er sah
den Kommissar an, lächelte und fragte mit sanfter, heller Stimme: »Ihr
seid kein Polizeikommissar?«
»Nein, nein! Wir sind vom Gericht, das ist lange nicht so
schlimm.«
Der Posten an der Tür lächelte. Das sah Fritz. Er schwieg und
trank bedächtig seine Milch. Der Kommissar sah ihm eine Weile zu, dann
fragte er: »Trinkst du Milch gern?«
»Jawohl.«
»Lieber als Bier?«
»Bier kenne ich nicht, das kostet Geld.«
»Na, du verdienst doch auch. Da kannst du dir doch wohl auch
einmal Bier kaufen. Was machst du denn mit deinem Gelde?«
Fritz schwieg und trank weiter.
»Na, du sparst wohl?«
Fritz nickte.
»Für wen denn? Du hast wohl gar schon einen Schatz?«
»Ach wo«, sagte Fritz plötzlich böse und gereizt.
»Na, warum nicht,« lachte der Kommissar, »da ist ja doch
nichts Böses dabei. Du bist doch bald ein Mann,« er senkte die Stimme
und blinzelte vertraulich, »hast du schon einmal so eine Dummheit
gemacht, du weißt schon?«
»Ich habe immer meine Arbeit gemacht.«
»Na und abends nach Feierabend? Hast du nicht ein Mädchen
lieb?«
»Das gehört doch nicht auf das Gericht.«
»Na ja, wir sprechen jetzt auch nicht amtlich zusammen, nur
so, du brauchst mir so etwas natürlich nicht zu sagen. Ich dachte nur,
weil du doch so ein junger hübscher Bursche bist. Du hast also immer
nur mit den Kindern gespielt, mit der kleinen Anna?«
»Jawohl.«
»Die war doch noch so klein. Hast du ihr auch nicht mal wehe
getan, so aus Versehen?«
»Nein.«
»Hast du sie auch nie geneckt oder geschlagen? Kinder quälen
einen doch manchmal so sehr und sind unartig.«
»Ach wo.«
»War die kleine Anna immer artig, und du hast sie nie ein
bißchen gestraft?«
»Nein.«
»Du warst also nur gut zu ihr und hast sie geküßt und
gestreichelt?«
Fritz lachte: »Ach wo!«
»Na, wir wollen ja jetzt auch gar nicht mehr von der kleinen
Anna sprechen. Das kommt später. Aber das kannst du mir noch verraten,
was du mit deinem Gelde machst.«
»Das kriegt die Mutter.«
»Die Mutter, so.« Der Kommissar schwieg. Er dachte an die
furchtbare Anklage der
Weitere Kostenlose Bücher