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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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letzte Tag vor der Abreise der Söhne. Da
zugleich auch die Beendigung der diesjährigen guten Ernte gefeiert
ward, war dieser Tag festlicher noch gerüstet als der der Ankunft. Es
war gebacken und seit langer Zeit auch wieder einmal ein Kalb
geschlachtet worden, es war das Haus gefegt und mit Kränzen aus Garben
und Blumen geschmückt worden, und für den Abend war wieder einmal ein
Fäßchen voll Beerenwein bereitgestellt.
    Vor dem Mittagessen war es, als das Kind, das in einer rätselhaften,
stummen Übereinstimmung mit seinem Freund das Geheimnis der Kirschkerne
gehütet hatte, nun mit freudigem Geschrei, das Händchen fest um sein
winziges Geschenk geballt, herbeigelaufen kam. Alle waren schon in der
Küche versammelt, um sich zu Tisch zu setzen. Die Mutter des Kindes
beugte sich zu ihm nieder und nahm voller Erstaunen das wunderbare
Spielzeug aus seinem Händchen, und erst, als sie es dicht vor ihre
Augen führte, erkannte sie die winzigen und doch deutlichen und feinen
Formen des Wagens, eine leichtgeschwungene Karosse mit Rädern und deren
Speichen, mit Trittbrett und Wagenschlag, mit einer schmal ausgefeilten
Deichsel, an der rechts und links die winzigen Pferde, zierlich
ausgeführt bis auf die Hufe, Schweife und Mähnen, bis auf Nüstern und
Augen, mit Zügeln aus Seidenfäden angeschirrt waren. Auf die Ausrufe
des Staunens und Entzückens der jungen Frau scharten sich alle um sie,
der Vater des Kindes, der jüngere Sohn, nahm das kleine Kunstwerk in
die Hand und betrachtete es. »Hallo!« rief er erstaunt. »Ah, das ist
sehr fein. Bei uns in Amerika hat niemand Zeit für so etwas, das machen
nur die Gefangenen, die alten, in den Zuchthäusern.« Und während er
zwischen zwei Fingern das feine Spielzeug umherwendete und sich mit dem
Bruder in seine Betrachtung vertiefte, ruhte der Blick dreier
Augenpaare voll Schrecken, Flehen und Drohung auf Martin, dem Knecht,
der breit, dick und lächelnd unter seinem gelockten Bart, mit sanftem
Blick an der Tür lehnte. Voll Schrecken blickte Emma, voll Bitte um
Schweigen Klara, der Herr aber hatte zuletzt seinen Blick auf ihn
gehoben, er war klar, hell, voll eisiger Drohung. Martin lächelte
weiter.
    »Hallo,« sagte der jüngere Sohn wieder, der das Spielzeug noch
immer hielt, und wandte sich an Martin, »die Pferde sind fein gemacht,
und das Geschirr tadellos, wo hast du das gelernt, Kamerad.«
    »Ich habe einmal viel kutschiert«, sagte der Knecht sanft. Der
Blick des Herrn wandte sich von ihm ab, die schweren Lider senkten sich.
    »Oh, in Europa,« sagte der Sohn wieder, »da haben die Knechte
Zeit, in der Ernte Spielzeug zu machen. Warum willst du es dem Kind
verschenken?« wandte er sich an Martin; »ich kaufe es dir ab, für zwei
Dollar. Das sind zweieinhalb Taler. Es ist es wert. Willst du?«
    »Nein,« sagte Martin, »die kleine Anna soll es haben.«
    Das kleine Spielzeug wurde nun in ein Kästchen gebettet, das
das Kind mit beiden Händen umklammerte. Endlich setzten sich alle zu
Tisch. An Emma war es, das Gebet zu sprechen. Als alle schon die Hände
gefaltet hielten, sagte sie plötzlich mit weicher, bewegter Stimme:
»Nein, der Martin soll beten«, und setzte sich nieder. Der Knecht stand
ohne weiteres auf, senkte sein Haupt, das längst wieder mit einer Fülle
blonder Locken bedeckt war, die in diesem Augenblick von einem schräg
einfallenden Sonnenstrahl umglüht wurden, und sprach mit seiner schönen
Stimme das Gebet. Das Kind saß neben ihm und ließ sich von ihm füttern,
da es das Kästchen mit dem Spielzeug nicht aus seinen Händchen lassen
wollte. Als alle gegessen hatten und sich die Hände reichten, legte
Emma einen Augenblick lang ihre linke Hand auf die Schulter des
Knechtes, aber sie wußte nicht, warum sie das tat, und in ihrem Herzen,
das bewegt war, nannte sie ihn weder Sohn noch Knecht.
    Des Abends saßen sie dann alle in der Laube auf dem Hügel, der
silbern übergossen war vom Licht des vollen Mondes, der zwischen der
Ebene des Himmels und der Ebene der Erde schwebte. Sie tranken von dem
Wein, der feurig durch ihre Adern schoß. Die Gesichter der Frauen
röteten sich, über die vollen, feuchten Lippen der jungen Frau
sprudelte übermütiges Lachen. Klara blühte auf, in einem weichen,
träumerischen Lächeln versank das Alter ihrer Züge, in schnelleren
Atemzügen hob und senkte sich ihre Brust, über die sie kreuzweise die
Hände legte, wie junge Mütter es tun, denen in

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