Das verlorene Kind
während sie dem still
auftauchenden Martin das Gepäck auf seinen breiten Rücken luden. Sie
riefen bei jedem zweiten Satz durchdringend und hell »Hallo«, so daß
die Magd, die neugierig hinter den Frauen an der Haustür stand,
kicherte.
Der Vater hatte die Zügel um das Brunnenrohr geschlungen und
den Wagen abgebremst, indem er einen Stein unter das rechte Vorderrad
schob. Er achtete nicht auf das Rufen und Schwatzen der Söhne, beugte
sich hinab, ergriff das Händchen des Kindes, das, im Alter von vier
Jahren, müde und erstaunt auf dem Hofe stand, und führte es, während
die Mutter des Kindes sein anderes Händchen hielt, den beiden Frauen
zu, die erregt und scheu an der Haustür standen. Hinter ihnen kamen die
beiden Söhne. Aus ihren hageren, tiefgebräunten und gestrafften
Gesichtern strahlten die dunklen Augen in einer übermütigen Heiterkeit,
als ihre Blicke über den Hof und das Haus schweiften.
Christian hob das Kind empor und reichte es seiner Schwester, die es an
sich preßte und mit Küssen bedeckte. Das Kind hielt still und weinte
nicht. »Wie heißt du?« fragte endlich Klara, als ihre Bewegung sie
wieder sprechen ließ. »How?« fragte das Kind mit einer dunklen
kräftigen Stimme zurück und fuhr lachend mit seinem Fingerchen den Mund
Klaras entlang, der sich bewegt und gesprochen hatte, ohne daß es ihn
verstehen konnte.
»Hallo!« rief plötzlich der eine der Söhne, »Hallo! Das ist ja
unsere Tante Klara! Meine liebe Tante, ich hoffe, du bist gesund. Oh,
was sind wir alle groß geworden!« Und nun lachten beide aus voller
Kehle und drückten der verlegen dastehenden Klara die Hand. Die Söhne
glichen einander so sehr, daß man sie nur der Größe nach unterscheiden
konnte. Beide trugen den dunklen Bart kurz verschnitten um die
Oberlippe, während das Kinn frei rasiert war, beide hatten die weißen,
blitzenden Zähne in regelmäßigen Reihen, die dunklen Augen, das volle
schwarze Haar. Nur überragte der Jüngere um eine Handbreit den älteren
Bruder. Der Jüngere war es auch, der am meisten sprach und mit etwas
hellerer Stimme als der Ältere.
Der Vater wandte sich an den Ältesten und sprach: »Da ist
Emma, die dich genährt hat.«
»Hallo!« rief sofort der Jüngere und trat auf Emma zu, die den
Kopf mit dem ins Gesicht gebundenen Tuch bis zur Brust gesenkt hatte,
ergriff ihre Hand und drückte sie: »Guten Tag, Emma, du bist auch so
groß geworden, ich habe dich nicht mehr erkannt, ich hoffe, du bist
gesund, komm, ich will dich küssen, wie einmal als Baby«, und er
lachte, packte ihren Kopf und hob ihn zu sich empor. Da erblickte er
ihre Narben, die in der Röte der Freude und Erregung feurig leuchteten.
»Oh,« sagte er leise, »hast du Unglück gehabt, old Emma?« Er küßte sie
vorsichtig auf die Wange, griff dann nach seinem Kind und reichte es
ihr: »Das ist mein Baby, gefällt es dir?« Emma streckte die Arme nach
dem Kind aus. Doch das Kind, bis jetzt vollkommen zutraulich, wich
schreiend vor dem narbendurchglühten Gesicht zurück, wehrte sich mit
aller Macht und streckte die Arme nach seiner Mutter aus, die es zu
sich nahm und mit Liebkosungen beruhigte. Emma legte die Hände auf ihr
Gesicht und wollte in das Haus eilen, doch der Vater des Kindes hielt
sie fest und sagte seiner jungen Gattin auf englisch einige Worte,
worauf diese an Emma herantrat, sie zart auf die Wange küßte, ihr auch
die eigene zum Kuß hinhielt, was aber Emma nicht verstand.
Das Kind hatte sich inzwischen schon beruhigt, und unter
Lachen drängte sich nun auch der ältere Bruder hervor zu Kuß und
Umarmung, und besonders Emma hielt er fest umschlungen und klopfte ihr
zärtlich auf den Rücken. Dann traten alle in das Haus. Die junge Frau
brachte sofort das halb schon schlafende Kind zu Bett. Von den Söhnen
wurde noch sehr viel darüber gelacht, daß die beiden Frauen bei dem
Herrichten des Gastzimmers wirklich vergessen hatten, daß die Kinder
nicht allein, zu zweien, so wie sie einst fortgezogen waren,
zurückkamen, sondern als Männer, von denen der eine Weib und Kind
mitbrachte. Nun wohnte der jüngere mit der Frau in dem elterlichen
Schlafzimmer, das Kind schlief in dem blumengeschmückten Bett zwischen
ihnen, und der Älteste mußte die leerstehende Knechtskammer beziehen,
da er sich weigerte, von Emma anzunehmen, daß sie ihm ihre Stube
einräumte.
Nun durchbebte ein Leben voll Jugend, Lachen und Heiterkeit
das einsame Haus. Des
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