Das verlorene Kind
Morgens früh schon ertönten die Hallorufe der
Brüder, mit denen sie sich und die andern begrüßten, das Jauchzen des
Kindes, das im Hemdchen, bloßfüßig, von der Mutter auf den
sonnenbeschienenen Hügel getragen wurde, wo Mutter und Kind miteinander
jagten und im Grase sich wälzten. Bei den Mahlzeiten und am Abend
erzählten die Söhne von ihrer »Heimat«, von ihrer Farm, die wohl
zehnmal so groß an Äckern sei, als sie in Treuen gehabt hatten, von den
Büffelherden, von den Negern, die bei ihnen arbeiteten, von dem
schweren, großkörnigen Weizen, den man »drüben« baute, wie die Erde
dort fett und schwer und fruchtbar sei, das Obst üppig wachse, Äpfel
dreimal so groß würden wie die hier. Und wenn sie bei ihren Vergleichen
von der Heimat, der wirklichen Kinderheimat sprachen, verzogen sich
ihre Lippen in leichter, übermütiger Verachtung. Aber sie erzählten
auch, wie man kämpfen müsse, noch ganz anders arbeiten als hier, und
auch dabei lächelten sie verächtlich. Sie erzählten, wie man dort bete
und Andacht halte, einen Altar im eigenen Hause habe, und der Bischof
zu ihnen käme, die Kinder zu taufen, die Toten zu segnen und die
Kirchensteuer zu erheben. Von den Riesenstädten erzählten sie, von den
Eisenbahnen, in denen man tage- und nächtelang fahre, dann von dem
Schiff, ihrer Reise über das Meer. Sie erzählten laut und etwas
prahlerisch, als wäre alles nur ihr Besitz und ihr Werk, doch waren sie
nicht stolz. Der Knecht und die Magd staunten sie an. Klara und Emma
ließen ihre Blicke mit trauriger Bewunderung auf den energischen
Männergesichtern ruhen. Sie suchten die Kinder in ihnen, die einst
fortgezogen waren, sie fanden in Augen, Haaren und ihren vollen,
geschwungenen Lippen die Erinnerung an die tote Mutter wieder, an ihren
fremden Zauber, der doppelt fremd ihnen in den Kindern sich wieder
zeigte, doch sie fanden das nicht mehr, das sie geliebt und mit
Herzensfreude zurückerwartet hatten. Auch sprachen die Söhne nie von
Vergangenem, und auch von den Alten wurde ja nie mehr daran gerührt.
Klara trug die kleinen Erinnerungen, die sie wach hielt, streng
verborgen in ihrem Herzen. So war in das Haus Frohsinn und Heiterkeit
gekommen, ohne jedoch Freude, innige Teilnahme oder Vertrautheit zu
erwecken.
Nur der Vater schien völlig zufrieden und mit allem
einverstanden zu sein. Wenn die Söhne am meisten prahlten, am lautesten
lachten, wenn sie den beiden Frauen am fremdesten erschienen, dann
lächelte auch er, er stand von seinem Platze auf und klopfte jedem von
ihnen auf die jungen kräftigen Schultern. Dann wurden die Männer zu
Kindern, sie erröteten und senkten die Blicke. Dagegen war der Vater
zurückhaltend zu dem Kind, das er nie liebkoste, kaum beachtete, und zu
dem er nicht sprach. Das Kind und seine junge Mutter konnten nicht
Deutsch sprechen, und wenn die beiden Brüder sie die heimatlichen Namen
lehren wollten, konnten sie es kaum nachsprechen, so sehr wurden sie
von Lachen geschüttelt.
Die Mutter und das Kind lachten und spielten den ganzen Tag zusammen,
niemals war die junge Frau bei einer Arbeit zu sehen. Das Kind war sehr
stark und groß für sein Alter. Es hatte braune Haare wie seine Mutter,
und sie waren schon so lang, daß sie in einer kleinen Frisur
aufgebunden wurden. Seine großen und dunklen Augen glichen denen des
Vaters. Es schrie, sang und sprach mit kräftiger, auffallend tiefer
Stimme. Es war sehr wild und quälte seine Umgebung oft mit trotzigen
Launen. Von den beiden Frauen, die es voll Entzücken umwarben, wandte
es sich ab, und als Emma es einmal mit sanfter Gewalt in ihre Arme
schließen wollte, wehrte es sich schreiend und schlug ihr mit den
Händchen in das Gesicht, vor dessen Narben es sich anscheinend
fürchtete, denn von diesem Tage an lief es davon, wenn Emma ihm allein
begegnete. Dagegen wendete es sich mit der ganzen Hingabe kindlicher
Liebe dem Knechte Martin zu. Der lebte still und unerkannt vor den
Augen seiner wiedergekehrten Freunde, lauschte ihren Reden, betrachtete
ihre Gesichter, ohne daß sie auf den schweren, dicken Mann mit dem
großen vollen Bart und dem fremden Namen achteten. In schweigendem
Einverständnis hatte auch niemand seiner erwähnt, auch von seiner
früheren Existenz niemand gesprochen. Das Kind aber war sofort am
zweiten Tag zu ihm gelaufen, hatte seine Beine umschlungen und sein
lachendes, braunes Gesicht zu ihm emporgerichtet.
Er hob es auf seine Arme.
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