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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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hielten noch die schwellenden Früchte an den Zweigen, die Beeren ihre
glühenden Trauben zwischen den Blättern ihrer Sträucher. Nur das Heu
war schon gemäht, lag tot, mit schwerem Duft in der Sonne. Der Gesang
der Vögel in den Nächten war verstummt, überall hingen schon die Nester
mit der zart wispernden Brut. Auf den Weiden führten die Alten ihre
Jungen zur Äsung: die Schafe ihre Lämmer, die mit den zierlichen
Gelenken zitternd ihre Sprünge taten, die schweren Kühe hatten ihre
milchduftenden Kälber um sich, die mit weichen Mäulern das Gras von der
Erde saugten, und zwei Stuten trabten hinter dem übermütig blinden Lauf
ihrer Fohlen sorgend mit erhobenen Köpfen einher. Von zwei kindlichen
Hirtinnen bewacht, führten die Enten ihre Jungen lärmend zum Teich, und
die Hennen riefen, warnten und lockten unermüdlich das Volk ihrer
Küken. Alles war in Ruhe, in Wachsen und Reifen. Die Tage waren
strahlend in der noch milden Glut des Frühsommers, die Nächte
durchsichtig blau, mit sternbesäten Himmeln, mit zart bewegter Luft.
Ein Hauch von Frieden und Glück, von leichter Fröhlichkeit wehte aus
der Natur die Menschen an, und man hörte viel Singen und Lachen auf dem
Hof.
    Es war Sonntag. Nach dem Gottesdienst war die Schwester des
Herrn gekommen und hatte der kleinen Anna Geschenke gebracht, eine
große Tüte Bonbons, ein paar feine weiße Strümpfe mit roten Ringen, in
deren Fußende je zwei Taler versteckt waren. Das Kind war fiebernd vor
Freude und Erregung. Es lief von einem zum andern, um ihm sein Glück
über die vielen Geschenke, die es erhalten hatte, zu erzählen. Es hob
mit freudebebenden Händchen die Falten seines Röckchens auf, um jedem
nahe und deutlich sein neues Kleidchen zu zeigen, aus schönem, rot- und
grünkariertem Stoff, an dem Leibchen und an den Ärmeln mit einer
dichten Reihe schillernder Knöpfchen besetzt. Es hob, wie eine Tänzerin
seine Arme ausstreckend, den kleinen Fuß empor, um die noch
weißschimmernde Sohle seines neuen Stiefelchens zu zeigen. Es tobte und
sprang und lachte sprudelnd, so daß es am Abend kaum zur Ruhe gebracht
werden konnte, und es schien von einer so gewaltsam gesteigerten
Lebensfreude erfüllt zu sein, daß es der Mutter schwer fiel, es in den
Schlaf zu zwingen, so bestrickend, im tiefsten erfreuend waren seine
Zärtlichkeiten, sein Liebreiz und sein Lachen an diesem Tag gewesen.
    Am späten Nachmittag war der Herr aufgebrochen, um seine
Schwester heimzufahren. Seit der Geburt des jüngsten Kindes war sie,
die alle Jahre vorher sich selbst in bitterer Einsamkeit gehalten
hatte, um nicht die Qual fremden Glückes zu spüren, doch wieder in den
Kreis menschlicher Gemeinsamkeit getreten, hatte oft des Bruders Haus
besucht, um an der reichen, jedem offenen Lieblichkeit des Kindes auch
Freude für ihr Herz zu gewinnen. An dem Bruder aber, als an dem Vater
und Erzeuger, hing sie jetzt in einer fast ehrfürchtigen Liebe. Vor der
breiten, stattlichen Auffahrt zum Wohnhaus ihres Gutes trennten sich
die Geschwister, denn der Bruder wendete den Wagen gleich zurück. Die
Schwester sah ihm nach. Der Himmel wölbte sich um ihn, während er in
die Weite der Ebene hineinfuhr, die großen, leuchtenden Sterne standen
immer über seinem Haupt.
    Christian fuhr langsam zurück, um ihn sank der Abend auf die
Erde. Er erinnerte sich jener Fahrt, im Winter, mit Martha, seiner
Braut. Damals war es kalt gewesen, die schneebedeckte Erde
hellstrahlend, der Himmel aber dunkel und verborgen, und das schwarze,
weitgeöffnete Auge der Frau war wie Finsternis um seine Gestalt
gewesen. Jetzt war es warm, die Luft noch durchhaucht von der Sonne des
Tages, der nachtblaue Himmel groß, sichtbar, schimmernd wie Glas. Die
Gestirne prunkten. Die Erde aber war dunkel, verschwiegen, trächtig in
sommerlicher Fülle. Er dachte an seine Frau, und plötzlich erzitterte
er. Ihr gesenktes Auge fiel ihm ein, ihr nachtdunkler Blick, nicht mehr
mit ihren Armen zugleich fordernd um ihn geschlungen, sondern
niedergesenkt nur noch auf das Kind. Er trieb die Pferde an und fuhr
schneller, von plötzlicher Sehnsucht nach dem Kinde ergriffen.
    Aber als er ankam, war schon alles zur Ruhe gegangen.
Schweigend und verlassen, in Sauberkeit und Ordnung lag der schöne
große Hof da, der Brunnen raunte leise, gedämpfter Tierlaut kam aus den
Ställen, die schon geschlossen waren. Nur die große, weite Scheune
Numero vier, nahe dem Wohnhaus gelegen,

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