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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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waren noch nicht aus der Stadt zurück, doch schien sie es nicht zu
bemerken, sie starrte vor sich hin, und nur, als Fritz zu beten begann,
zuckte sie zusammen und richtete ihren aufgerissenen Blick lange auf
ihn. Nach dem Essen stand sie auf und ging in den Garten, wo Emma sie
dann ziellos hin und her gehen sah. Später, als sie die Frau zur Vesper
rufen wollte, fand sie sie auf einer kleinen Bank sitzen, unbeweglich,
mitten im glühenden Sonnenschein, und kleine Schweißperlen standen in
den Furchen ihrer Stirn. Sie hörte auch nicht auf ihren Anruf und blieb
regungslos sitzen.
    Christian war nach vier Uhr, als der Hof vom Melken wieder
leer war, zurückgekommen und sofort in das Wohnzimmer eingetreten. Es
war kühl und von grüner Dämmerung erfüllt. Auf dem Tisch stand ein
Becher Milch und ein Stück Brot, heimlich von Emma bereitgestellt. Er
aß und trank. Dann ging er zum Schreibsekretär, öffnete ihn und zählte
das Geld ab für den morgigen Wochenlohn. Es war Sonnabend, die Woche
des Unglücks hatte sich erfüllt. Er trat zu dem Schrank, in dem seine
Bücher aufgestellt waren, und streifte mit dem Blick über sie hin. Am
Ende einer Reihe las er auf breitem, schwarzem Rücken in goldenen
Buchstaben »Die Heilige Schrift«. Lange ruhte sein Blick auf diesen
einfachen Worten.
    Zum Feierabend erschien er zum ersten Male wieder bei Tisch
und setzte sich neben die Frau. Er aß. Er hob seinen schweren Blick und
sah die beiden Söhne an. Beim Aufstehen sagte er: »Morgen ist Kirchgang
für alle. Ihr könnt auch den Feldwagen noch einspannen.« Dann ging er
hinaus, von neuem durchwanderte er die gesegneten Felder.
    Auf alle, die am Tisch saßen, hatten seine Worte eine tiefe,
befreiende Wirkung. In den Gesichtern der Männer glätteten sich die
mürrischen Züge, die Frauen atmeten hörbar auf, Emmas Augen füllten
sich mit Tränen einer weichen, tröstlichen Rührung. Der Gedanke an die
Fahrt zur Kirche, daran, einmal wieder fort zu kommen von der
verwirrenden Nähe des Unglücks, und dann auch daran, vor Gott zu
treten, in seinen Willen die furchtbar drückende Last niederzulegen, in
das Vertrauen zu ihm sich zu retten, im Gebet sich zu trösten, das
erfüllte alle mit einem Anflug von Freude. Sie gerieten in eine eifrige
Geschäftigkeit, sie stritten sich darum, mitzukommen, niemand wollte
der sein, der notwendigerweise die Arbeit im Haushalt übernehmen mußte.
Auf dem Hof vor dem Gesindehaus drängten sie sich, bürsteten ihre
Schuhe und Röcke, die Mädchen holten in Kübeln Wasser vom Brunnen in
ihre Kammern, um sich am ganzen Leibe zu waschen. Heimlich wurde das
Feuer in der Küche noch einmal angeschürt zum Erwärmen des Wassers und
zum Glühendmachen eines Bügelstahles, mit dem sie auch noch die weißen
Schürzen und Kopftücher glätteten.
    Nur zwei Gemüter blieben unbewegt und ohne Teilnahme an dem
Aufschwung der andern. Das waren Fritz und Martha, die Frau.
    Emma ließ die Frau nicht von sich, sie beschäftigte sie, gab
ihr Befehle wie einem Kind. Sie hieß sie Wäsche und Sonntagskleider für
den Mann und die Kinder heraussuchen, schickte sie im Hause umher,
während sie selbst schnell die Betten des Herrn in das Wohnzimmer trug,
sie auf dem Sofa ausrichtete, seine Kleider über den Stuhl hing, die
Leibwäsche auf den Tisch legte. Auch eine Waschschüssel mit Wasser trug
sie herbei, Seife und Handtuch dazu, damit der Herr nicht wieder, wie
am Morgen, am Brunnen sich waschen müsse. Langsam wurde es dunkel und
alles ruhig. Niemand wußte, ob der Herr zurück war oder nicht. Die Frau
ging in das Schlafzimmer, Emma verschloß Keller und Küche, und ihre
Müdigkeit war so groß, daß sie trotz ihres Kummers sofort in Schlaf
versank, als sie kaum ihr Haupt auf das Lager gebettet hatte.
    Der Sonntagmorgen begann strahlend und schön.
    Christian erwachte früh. Er war im Dunkeln heimgekehrt, in
gutem Schlaf hatte sein Körper geruht, seine Augen grüßten Sonne,
Himmel und prangende Erde, sein Ohr wurde umschmeichelt vom
morgendlichen Jubeln der Vögel. Der schwere Duft der reifenden Felder
durchwogte das Zimmer. Seine Haut brannte wohlig, als er sich wusch, er
verspürte Hunger und Durst. Die sonntäglichen Kleider legten sich schön
und frisch um seine Gestalt. Er lebte und fühlte sich leben. Und doch
war das Unglück da, das Furchtbare geschehen, seine Welt vernichtet.
Die Kraft, die sein Körper, seine Sinne, sein Geist wiedergewonnen
hatten

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