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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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in dieser Nacht, war nur da, um das Geschehene noch einmal mit
neuem Schmerz zu erleben. Er dachte zurück an seine Jugend, an Vater
und Mutter. Sie hatten gelebt und gearbeitet, Sorgen und Glück gehabt,
die Kinder erzogen nach bestem Wissen und Gewissen, und ruhig, wie sie
gelebt, waren sie gestorben. Auch er hatte gearbeitet und mit Wissen
niemand unrecht getan, er hatte gelebt wie die andern, Gott gebeten,
wenn die Saat ausgestreut war, ihm gedankt, wenn sie geerntet war,
hatte die Kinder seinen Geboten geweiht, seine Feste gefeiert, und vor
allem hatte er sein Leben gegründet auf die tiefe Gerechtigkeit Gottes.
Nun aber, in dem grauenvollen Schicksal seines unschuldigen Kindes, das
er nur ahnte, das, wenn es eine Strafe sein sollte für vergangene oder
verborgene Sünden, blind und grausam gegen einen Unschuldigen gerichtet
war, fand er das von ihm gewaltig und vertraut zugleich gefühlte Dasein
Gottes nicht mehr.
    Als er sich jetzt zum Kirchgang rüstete, war sein Herz noch
einmal bewegt. Verlangen erfüllte ihn, Hilfe zu finden in Gottes Wort.
Er war bereit, sich zu opfern, das Leiden aufzunehmen, auch die Qual
und den martervollen Tod seines Kindes, wenn sich Gott ihm nur noch
einmal zeigte, auch in diesem tiefsten Dunkel.
    Als er Leben auf dem Hofe bemerkte und das Erwachen der
anderen, trat er aus dem Zimmer in die Küche. Emma richtete den Tisch,
Fritz war da, schon zum Kirchgang angekleidet, ging auf den Herrn zu
und fragte ihn bittend: »Darf ich kutschieren, Herr?«
    Über das Gesicht des Herrn glitt der Schein eines Lächelns.
»Kannst ja die Schimmel führen«, sagte er, und Fritz dankte
freudestrahlend.
    Emma fand die Frau im Schlafzimmer vor der Truhe kniend, das
schwarze, seidene Brautkleid in der Hand haltend.
    »Wollt Ihr das Seidene anziehen, Frau?« fragte sie erschrocken.
    Martha sah sie an, dann blickte sie nieder auf das Kleid und
sagte leise: »Nein, ich will nicht trauern!« und klappte die Truhe zu.
    »Zieht das blaue Leinene an, Frau, es wird Euch leicht sein in
der Hitze«, sagte Emma sanft, wie eine Mutter zur Tochter. Sie ging zum
Schrank, holte das Kleid hervor und legte es bereit. Die Frau nickte
gehorsam.
    Inzwischen waren draußen die Wagen in den Hof gerollt und
eingespannt. Alles war sauber und blank gewaschen und die Geschirre der
Pferde glänzend geputzt. Fritz war als erster fertig mit seinem Wagen,
er lehnte an dem Schimmel, pfiff leise vor sich hin und knallte mit der
Peitsche, er freute sich auf das Kutschieren. Der Herr kam und stieg in
die Kutsche ein, nahm die Zügel in die Hand. Scheu traten die Söhne
näher und drückten sich auf ihre Sitze. Endlich kam die Frau, von Emma
geführt. Das Gesicht von einem großen braunen Strohhut umschattet,
schritt sie mit weichem, wiegendem Gang näher, ihre Gestalt, in zarter
Fülle, war immer noch jugendlich. Der Mann beugte sich ihr entgegen und
hob sie auf den Wagen. Sie erbebte, als er sie berührte. Röte übergoß
ihr Gesicht, das aber unbeweglich blieb. Wie gehämmert waren die
Furchen der Stirn, wie aus Erz gegossen die aufgerissenen, glühenden
Augen, die nahe vor seinen Blick gehoben waren.
    Als der Wagen fuhr, haschte sie nach seiner Hand, und ohne ihn
anzusehen, umkrampfte sie seine Finger auf dem ganzen Wege, bis sie vor
der Kirche hielten. Sie wurden sofort von allen Seiten umringt,
neugierige und teilnahmsvolle Blicke ließen nicht von ihren Gesichtern,
viele kamen und drückten ihnen die Hand, versuchten ein paar Worte,
einen guten Wunsch zu sprechen, einen Ratschlag zu erteilen. Als sie
die Kirche betraten und an ihre Plätze gingen, wandten sich alle nach
ihnen um, »als wäre ich eine Braut«, dachte die Frau.
    Die Orgel setzte ein, der Gesang begann, angeführt von dem
Chor der Kinder und den jungen, unverheirateten Burschen und Mädchen,
oben auf der schmalen Empore. Zarte, helle Stimmen erhoben sich, die
erste unter ihnen, die weich und sicher einsetzte, war die von Fritz,
dann fiel rauh und kräftig die ganze Gemeinde ein.
    Es war der sechste Sonntag nach Trinitatis, die Zeit der
Fruchtbarkeit und der Ernten. Es war die Zeit der Lobpreisung Gottes.
Der Choral begann: »Wie groß ist des Allmächt'gen Güte...«
    Die Kirche war einfach, die Wände weiß getüncht, der Altar aus
weißem Stein war flach wie ein Tisch, ohne Zierat, nur das Kreuz stand
auf ihm, aus breiten goldenen Balken zusammengesetzt, die mächtig in
den kahlen, schmucklosen Raum

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