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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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weit als möglich von dem Hause fort, fort
aus dem Anblick der Herrschaft. Schnell und flüchtig erledigten sie
ihre Arbeiten, nicht mehr wie bisher mit tiefem Ernst und freudigem
Eifer, es drängte sie immer wieder, beisammen zu stehen, das Unglück zu
besprechen, das sonderbare Wesen der Herrschaft und ihr eigenes Los zu
beklagen. Es fehlte ihnen der klug waltende Wille, der vorsorgende
Befehl, dem sie so gern gehorcht hatten, es fehlte ihnen der lohnende
Blick des Herrn für ihren Fleiß. Das Essen, der schöne Feierabend ward
ihnen zur Strafe. Das Haus, das ihrer aller Heimat war, wurde ihnen zum
Schrecken.
    Am Abend, nachdem wieder rasch und schweigend abgegessen
worden war und das Gesinde schnell aus der Nähe des Hauses flüchtete,
um erst im Dunkel in den Hof zurück und in ihre Kammern zu schlüpfen,
herrschte früh schon völlige Stille über Haus und Hof. Verlassen die
Bänke unter den abendlich duftenden, mächtigen Bäumen des Hofes,
verlassen der milde, verschwiegene Teich. Von Emma sanft um den Leib
gehalten, war die Frau in das Schlafzimmer gegangen, nachdem sie stumm
und tatenlos den ganzen Tag in der Küche gesessen hatte. Der Mann war
in das Wohnzimmer getreten, in das Zimmer, in dem nur die Erinnerungen
an die Zeit waren, wo er allein und einsam gelebt hatte. Nach drei
schlaflosen Nächten empfand er tiefe Müdigkeit. Inmitten des Zimmers
stehend, fühlte er seine Knie wanken, seinen Körper zittern und
taumeln. Er wollte auf das Sofa zugehen, sich niederlassen und ruhen,
doch plötzlich erinnerte er sich des leisen Rufes, mit dem die Frau
heute seinen Namen genannt hatte. Zögernd und schwer verließ er das
Zimmer, stieg die Treppe empor, stand lange vor dem Schlafzimmer still.
Ein furchtbares Grauen überfiel ihn davor, einzutreten, die Frau zu
fühlen, ihren weiten schwarzen Blick, das Bett des Kindes zu sehen,
leer und verlassen. Durch den schmalen Spalt der halb offenen Tür trat
er endlich ein. In der mondlosen Nacht war alles verhüllt, das Bettchen
des Kindes nicht zu sehen. Er hörte seufzend und schwer die Atemzüge
der Frau. Er konnte sie nicht erkennen, doch es war, als sei ihr Blick
aufgegangen in der großen schweren Nachtdunkelheit und umwoge ihn
drohend und fordernd zugleich. Er tastete sich vor und entzündete Licht
    Hell, weiß und leer stand das Bettchen des Kindes plötzlich
vor ihm. Tief unter seinem geneigten, verhangenen Blick erschien es,
ein geheimnisvolles Zeichen des unbegreiflichen Unglücks, das geschehen
war. Lange sah er darauf nieder, Gefühl ohne Namen durchströmte ihn.
    Plötzlich hob er die schweren Lider von den Augen, die im
Schein der Kerze nicht mehr wie Augen, sondern wie zwei Todeswunden in
dem Gesicht unter der hohen, reinen Stirn sich zeigten, und sah auf die
Frau. Sie lag im Bett auf dem Leib. Ihr Gesicht verborgen in die
Kissen, Blick und Auge verborgen in den Kissen. Schwer und halb
erstickt preßte sie den Atem aus der Brust hervor. Er löschte das
Licht, nun schien ihm alle Finsternis rein, sie war nichts mehr als der
versunkene Tag, aus dem der neue wieder erstehen würde.
    Leise verließ er das Zimmer wieder und kehrte in die Wohnstube
zurück. Seine große Gestalt zusammenziehend, legte er sich auf das Sofa
und fiel endlich in tiefen, traumlosen Schlaf. Doch dieser Schlaf war
so von Verzweiflung durchtränkt, daß er spät am Morgen erst erwachte,
mit bleierner Müdigkeit in den Gliedern, das Herz in matten langen
Schlägen leise pochend, und aus dem schlaff geöffneten Munde rann ihm
bitterer Speichel langsam an den tief gezogenen Mundwinkeln herab in
den traurig verwirrten Bart, bis auf die Brust, wie kalte Tränen der
tiefsten Trostlosigkeit.
    Als am frühen Morgen sich weder Mann noch Frau zeigten, war
Emma erfreut darüber und hoffte, daß beide schlafen und sich erholen
würden. Sie sorgte dafür, daß sie nicht geweckt würden. Leise geschah
die Morgenarbeit, am Brunnen beim Waschen wurde nicht gezankt und
geneckt, und das Vieh wurde schnell vom Hofe getrieben. Sie weckte und
betreute die Kinder und schickte sie mit in die kleine Stadt zum
Wochenmarkt, um ihnen eine Freude zu machen. Sie verlud und maß die
Waren ab, die zum Verkauf gebracht werden sollten. Sie ließ den
Schlächter, der das Schlachtvieh abholen wollte, sich selbst die besten
Stücke aussuchen, den Müller sich selbst das Korn abmessen, das er sich
zum Mahlen holte. Zwei Pferde mußten beschlagen werden, ein

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