Das verlorene Kind
hineinleuchteten, die aber weder einen
Schmuck noch den Leib des Herrn trugen. Denn Jesus und das Wunder
seiner Geburt, die Offenbarung seiner Auferstehung standen dem Herzen
und dem Glauben dieser Gemeinden ferner als Gott, der Herr, der
gewaltige Schöpfer der Welt, der allwissend war, Strafe und Vergeltung
verhieß, und den sie fürchteten. Seine Gebote waren nahe ihrem Herzen,
sie glichen für sie den mächtigen Gesetzen der Natur, die ihr Leben mit
allen seinen Bedürfnissen unmittelbar beherrschten.
Während des Gesanges hatte der Pfarrer die Kanzel betreten.
Noch nie hatte ihn jemand auf diesem Gang erblickt, stets war er
plötzlich oben erschienen. Es war ein kleiner gedrungener Mann, der aus
einer Familie stammte, die schon in der dritten Generation Pfarrer war.
Er selbst hatte keine Kinder. Sein Lebenswandel war zurückgezogen. Er
kümmerte sich um seine Gemeinde nur, soweit es die Zeremonien seines
Berufes verlangten. Seine Predigten hielt er genau nach dem in den
kirchlichen Gesetzbüchern angegebenen Pensum. Als jetzt der Gesang
beendet war, sprach er:
»Lasset uns beten!« Die Gemeinde erhob sich von den Sitzen und
faltete die Hände. Er sprach das Gebet der Bitte um Andacht: »Herr,
mein Gott, getreuer, himmlischer Vater! Wenn wir jetzt vor Dich treten,
um unsere Herzen zur Andacht, zu Deinem furchtbaren und doch gnädigen
Gotteswort zu erheben, so gib uns nun Deinen heiligen Geist, daß er
unsere Augen öffne, zu sehen die Wunder an Deinen Gesetzen; daß er
durch Dein Wort den Glauben in meinem Herzen wirke und vermehre und
meinen Willen kräftiglich lenke, daß ich mich freue über Deine
Zeugnisse und von Herzen an Dich glaube und Deine Gebote halte. Lob,
Preis, Ehre und Dank Dir, Herr, in Ewigkeit, Amen!«
»Amen!« wiederholte die Gemeinde.
Christian seufzte tief. Seine bedrückte Brust hob sich, die
Schultern hielt er gestrafft, die schweren Lider waren aufgeschlagen,
der wunde, versunkene Blick seiner Augen hing an den Lippen des
Geistlichen. Er fühlte, hier war er nicht mehr Christian B.,
der Herr, der klug und streng gearbeitet, der vieles erreicht und
gewonnen hatte, hier war er kaum mehr Mensch. Denn wie er jetzt in
plötzlich ausbrechendem Gefühl seines Kindes gedachte, hob es ihn über
sich selbst. Es öffnete sich seine Seele. In unirdischen Kreisen, in
die sein Geist sich hob, glaubte er seines entschwundenen Kindes Seele
zu begegnen, und er fühlte sich bereit bis zum Letzten.
Der Pfarrer sprach weiter: »Vernehmet nun das Wort der
Heiligen Schrift, wie es geschrieben steht im Buche Mosis, zwei, im
dreiunddreißigsten und vierunddreißigsten Kapitel.«
Mit ungeheurer Erregung lauschte Christian den Worten des
Geistlichen, seine gefalteten Hände mußte er lösen und seine schmerzend
sich weitende Brust umklammern, kaum vermochte er zu stehen.
Der Pfarrer las vor: »Moses sprach zum Herrn: So laß mich
Deine Herrlichkeit sehen.
Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte
vorübergehen lassen und will ausrufen des Herren Namen vor dir.
Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich
erbarme, des erbarme ich mich.
Und sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn
kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da
sollst du auf dem Fels stehen.
Wenn dann nun meine Herrlichkeit vorübergehet, will ich dich
in der Felskluft lassen stehen, und meine Hand soll ob dir halten, bis
ich vorübergehe.
Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen.
Aber mein Angesicht kann man nicht sehen.«
Keuchend war Christian auf die Bank zusammengesunken. Schweiß
rann von seiner hohen Stirn, sein Kopf mit den schwer verhangenen Augen
sank auf die Brust. Sein Stöhnen klang furchtbar durch die Stille.
Aufgeregtes Flüstern des Bedauerns erhob sich ringsum, während
die Gemeinde sich schwerfällig wieder auf die Bänke niederließ. Hier
und da seufzte jemand tief.
Es war ein anderes Unglück als das, was sonst von Gott und
Natur über sie verhängt wurde, wie Krankheit, Tod, Armut oder gar
Krieg. Und sie begriffen, daß der Vater des verlorenen Kindes Trost und
Antwort von Gott erwartete. Sie horchten auf und verfolgten Wort für
Wort die Auslegungen des Geistlichen.
Auf der Empore drängte sich Fritz durch die Kameraden vor bis
zur steinernen Brüstung, um gut und aufmerksam zu hören, er freute sich
darauf, der Mutter
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