Das verlorene Kind
genau den Text der Predigt wiederzuerzählen, denn er
lernte schnell auswendig und merkte sich leicht.
Auf der Bank, neben den Eltern, saßen Karl und Gustav, preßten
inbrünstig die gefalteten Hände ineinander, im Sturm erhoben sich ihre
kindlichen Bitten. Das Unglück zeigte sich ihnen noch fern und sanft,
ihre Jugend schützte sie davor, zu begreifen und zu verzweifeln, und
schenkte ihnen unbegrenzte Zuversicht und Hoffnung.
Das Antlitz der Mutter glühte. Ihre Brust hob und senkte sich
stürmisch, sie bewegte den Mund, es war, als versuchte sie krampfhaft
zu lächeln. Ihr Blick aber, der starre, aufgerissene Blick unter der
gefurchten Stirn, war festgebannt auf das hohe Kirchenfenster ihr
gegenüber, das in buntem Glas die Darstellung Christi zeigte, wie er
die Kinder segnet. Dieses Bild hatte sie gegrüßt, da sie als Braut zum
ersten Male hier mit Christian gestanden hatte. Wie jetzt, hatte sie
auch damals nichts vernommen von den Worten des Geistlichen. In einer
Wolke von Lächeln und Glück hatte sie gestanden, ganz für sich, wie sie
jetzt stand, allein, ohne Gedanken, immer nur die Erinnerungen und
Bilder von Glück vor sich, nach denen sie zurückverlangte. Ihre Füße
bewegten sich, wie in eiligen Schritten jagten und scharrten sie am
Platze.
Christian fühlte ihre Erregung, das Zucken ihrer Füße, die
laufen wollten und entfliehen. Über sein erhobenes, nur noch Gott
bereites Herz legte sich weicher, menschlicher Schmerz. »Wir sind alle
verloren!« dachte er. Er sah die Frau vor sich, wie sie gewesen war,
als seine lächelnde Braut, als gehorsame Frau, als hingebendes Weib.
Alles Glück hatte sie aus seinen Händen empfangen. Nun, im Unglück, war
sie allein, mußte er sie verlassen. Denn vom Leben, das er in seiner
ganzen beglückenden Fülle gekannt und genossen hatte, das für ihn aber
nun von göttlichem Sinn und von göttlicher Ordnung verlassen war, trieb
es ihn zum Tod.
»Gottes Angesicht darfst du nicht sehen, kein Mensch lebt, der
es sieht.« Dieses Wort erfüllte ihn langsam mit einem gewaltigen,
eisigen Glück.
Von diesem Augenblick an lebte er nur noch für den Tod. Er
würde sterben, und in der Nacht des Todes, die schwärzer war als alle
Nächte, deren Finsternis er immer gefühlt hatte, würde Gott ihm
antworten, ihm Rechenschaft geben über seines Kindes entschwundene
Seele. Da würde er Gottes Angesicht wiedererkennen im Glanze seines
auferstandenen Glaubens. Der schmale Raum der Felskluft der Bibel, den
Gott trennend, nach den Worten der Schrift, zwischen sich und ihm
aufriß, es waren die Tage seines Lebens, von denen weg er sich dem Tode
zusehnte, Gott entgegen, den er nicht lassen wollte.
Müde, aber in Frieden erhob er sein Antlitz wieder von der
Brust Der Pfarrer segnete die Gemeinde, nach dem Amen setzten die Orgel
wieder ein und der Gesang des Chores, angeführt von der hellen, schönen
Stimme Fritz', des Mörders. Dann leerte sich die Kirche schnell.
Es war heißer Mittag. Über den weißen, staubbedeckten Wegen,
auf den Ebenen der gelben, still reifenden Felder zitterte die Luft in
Glut Die kleinen Bäche zwischen den Wiesen waren versiegt, die zarten
Blumen an ihren Rändern verdorrt. Kein Vogel rief, keine Wolke war am
heißen, hellen Himmel. Nichts schien sich zu rühren, nur die Wagen von
Treuen rollten dahin, trugen die schweigenden Menschen, die Pferde
liefen mit gesenkten Köpfen, lässig hielt Fritz die Zügel über seinem
Schimmelpaar. So kehrten sie heim.
An diesem Sonntag war also eine Woche und ein Tag vergangen
seit dem Unglück, seit dem Geburtstag des Kindes, das fröhlich noch
unter ihnen allen gelebt hatte, sie durch sein Dasein in Entzücken und
Freude versetzt hatte, gerade an diesem Tage in besonderem Maße. Und
während draußen in der Welt, in den fremden Städten und Ländern, vor
tausend und aber tausend fremden Blicken sein Bild erschien, sein Name
ertönte, sein Geschick die Herzen ergriff und um Hilfe aufrief, war es
hier, wo es gelebt hatte und am nahesten geliebt worden war, mehr als
tot. Denn an keinen Grabhügel konnten die Menschen treten und sein
Gedächtnis ehren. Ins Leere gerichtet waren aller Liebe und Tränen. Es
war ihnen allen entschwunden, so jäh entschwebt, daß es selbst schon
vergessen schien, und nur der Schmerz um die zertrümmerte kleine Welt
des Glückes blieb.
III
Die erste Behörde, welche die Meldung von dem Verschwinden des
Kindes Anna B. empfangen
Weitere Kostenlose Bücher