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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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zugewandt, die Ärmchen wagerecht
ausgestreckt, die Händchen wie kleine schwingende Flügel bewegend,
schnellte es mit winzigen Schritten vorwärts auf einem Seil, das
unsichtbar schien aus der Ferne. Sein lichtes Haupt war im
aufstrebenden Schein der Fackeln golden von dem zarten Flaum des Haares
wie von Federchen umspielt.
    Der Zug rollte um eine Biegung, und das Bild entschwand. Nacht
war wieder ringsum. Unbeweglich saß Christian da. Er vermochte nicht zu
entscheiden, ob diese Erscheinung Wirklichkeit oder Traum war. Wie von
weit her vernahm er den aufgerührten, dumpf andringenden Schlag seines
Herzens, doch Gedanken und Gefühl waren wie gefesselt in ihm,
niedergehalten von Verzweiflung in seiner Brust.
    Er kam nach einer Stunde weiterer Fahrt an seinem Ziel an. Auf
der Polizeiwache erfuhr er, daß die Angaben über die Reise der Zigeuner
falsch gewesen seien und daß dieselben, statt hier, eine Stunde
Bahnfahrt zurück in dem Orte A. lagerten und wahrscheinlich morgen in
der entgegengesetzten Richtung, als angenommen war, weiter wandern
würden. Doch sei gestern noch das Kind bei ihnen gesehen worden.
Schwer, mühsam Worte findend, erzählte Christian, daß er ein
Zigeunerlager, eine Stunde Bahnfahrt entfernt von hier, erblickt habe,
mit einem seiltanzenden Kind, das dem seinen glich. Er hörte den
Beschlüssen der Beamten zu, die dahin gingen, daß alle noch in dieser
Nacht nach R. fuhren, um die Zigeuner dort am frühen Morgen zu
erwarten. Er erlebte alles wie in einem Traum.
    R. war ein kleiner Ort, eine Stunde vom Meere entfernt, mit
einem ziemlich großen Marktplatz, mit Schule, Rathaus und Gefängnis.
Die Polizei verteilte sich in zwei Posten. Der eine stellte sich am
Eingang der Landstraße, die von A. herführte, auf, um so die
ankommenden Zigeuner sofort einzufangen, ehe sie Gelegenheit hatten, in
den Winkeln der Stadt sich zu verkriechen, die anderen bewachten den
Ausgang der Stadt auf der entgegengesetzten Seite, auch wurden die
umliegenden Felder und Wiesen unter Aufsicht gestellt, so daß die Bande
keinen anderen, unverhofften Weg einschlagen konnte. Gegen Mittag, in
der höchsten Glut, sah man auch den Zug, bestehend aus drei Wagen, sich
heranbewegen. Jeder der Wagen war bespannt mit zwei starken Pferden,
umsprungen von Hunden, begleitet von einem ziemlich hohen Troß von
Erwachsenen und Kindern. An der Stadtgrenze wurde der Zug angehalten
und sofort von Polizei umstellt. Die Wagen wurden an Ort und Stelle auf
das gründlichste untersucht, doch keine Spur von dem Kinde war zu
sehen. Dann wurde die Bande gezählt und in Haft genommen. Sie bestand
aus dreizehn Erwachsenen und sieben Kindern im Alter von fünf bis
dreizehn Jahren.
    Es ergab sich, daß die Zigeuner gestern in dem Ort, den
Christian B. durchfahren hatte, wohl eine Gauklervorstellung
abgehalten hatten, daß aber das seiltanzende Kind, das er erblickte,
ein als Mädchen verkleideter fünfjähriger Knabe gewesen war. Ein aus
rosafarbenem Tarlatan bestehendes Kleidchen und rosa Schuhe fanden sich
in dem Wagen vor. Auch legte der sehr zierlich gewachsene Knabe sofort
eine Probe seines Könnens auf dem schnell aufgespannten Seile ab. Im
blendenden Sonnenlicht sah Christian nahe vor sich die Bewegungen des
Kindes, das leicht, aber mit gespanntester Aufmerksamkeit über das Seil
lief. Nichts erinnerte ihn mehr an sein Kind, auch war das Gesicht des
Knaben bleich und hager und von dunklen Strähnen umhangen. Nachdem also
die Untersuchung der Wagen und Personen nichts ergab, wurde die ganze
Bande ins Gefängnis transportiert, Pferde und Wagen auf Staatskosten
untergestellt, die Zeugen, die das Kind bei den Banden gesehen haben
wollten, sowie die gesamten Inhaftierten aus den anderen Orten
herbeibeordert. Mit dem Verhör der gegenwärtigen Zigeuner wurde sofort
begonnen. Alle leugneten, je ein fremdes Kind bei sich gehabt zu haben.
    Am übernächsten Tag begannen die großen Verhöre mit den Zeugen
im Beisein des Vaters Christian B. Es wurde festgestellt, daß
die Bande um die in Betracht kommende Zeit in zwei großen Wagen gereist
war, von denen der eine weiß, der andere schwarz überspannt war. In dem
ersteren befanden sich zwei Brüder mit ihren Frauen und deren Kindern,
in dem letzteren der Führer mit seiner Familie und einem taubstummen
Zwerg. Die übrigen der Bande kamen und liefen zu, nächtigten im Freien,
in Scheunen oder Gasthöfen, mußten nur für den Führer arbeiten

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