Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
Vom Netzwerk:
hatte, war das Landratsamt des
Landkreises Gr. Dieses hatte noch am 25. Juni
telegraphisch alle Polizeibehörden bis in die weiteste Umgebung des
Tatortes in Kenntnis gesetzt. Es erschienen zuerst am 3. Juli,
dann fortgesetzt über vier Wochen lang in Abständen von drei Tagen
Inserate in allen Zeitungen und als besondere Plakate große öffentliche
Bekanntmachungen folgenden Inhalts:
    »Menschenraub! Fünfhundert Taler Belohnung!
    Am 24. Juni, abends 8 Uhr, wurde auf der Domäne Treuen
bei L. im Kreise Gr. die vier Jahre alte Tochter Anna
des Domänenpächters Christian B. vermißt. Da trotz
gewissenhaftesten Suchens im Umkreis der Ortschaft Treuen Spuren von
dem Kinde nicht gefunden werden konnten, auch ein Unglücksfall oder ein
Verbrechen ausgeschlossen scheint, liegt der Verdacht nahe, daß das
Kind etwa von herumstreifenden Zigeunerbanden oder anderen
interessierten Personen geraubt worden sei.
    Für die Wiederherbeischaffung des Kindes ist von dem Vater
eine Prämie von fünfhundert Talern ausgesetzt worden.
    Zweckdienliche Nachrichten nimmt jede Polizeibehörde entgegen.
    Die verschwundene Anna B. ist vier Jahre alt, ein Meter und
zehn Zentimeter groß, von zartem, aber gesundem Aussehen. Arme, Beine
und Gesicht sind rund geformt. Sie hat große blaue Augen, glatte Stirn,
kleine, etwas abgestumpfte Nase, kleinen Mund, bis auf vier Backenzähne
vollständiges Gebiß und blondes lockiges Haar, das über der Stirn von
einem Rundkamm aus dunklem Horn, mit zwei Goldstreifen verziert,
zurückgehalten ist. Bekleidet ist das Kind mit einem rot- und
grünkarierten, sogenannten schottischen Kleidchen aus feinem Wollstoff,
dessen Rock in Falten gelegt und an das Leibchen angeknöpft ist. Das
Leibchen ist am Hals ausgeschnitten, hat lange Ärmel, die am unteren
Teil des Oberärmels mit kleinen Perlmutterknöpfen besetzt waren. Ebenso
war die Vorderbahn des Leibchens mit zwei Reihen dieser Knöpfchen
verziert. Das Kleid war neu. An den Füßen trug das Kind weiße, wollene
Strümpfe mit roten Ringen und schwarze Knopfstiefelchen. Beides war
ebenfalls neu. Das Hemdchen des Kindes trug rot eingestickt die
Buchstaben A. B. 8, war aus feinem Leinen genäht mit
kleinen Ärmelchen. Am Ausschnitt und den Ärmelrändern war es
bogenförmig ausgestickt. Über dem Hemdchen trug das Kind ein rosa
Leibchen aus Flanell, mit Leinenknöpfen zugeknöpft, ebenso waren an den
Seiten Knöpfe angebracht, an denen die weißen Gummistrumpfbänder
angebracht waren, welche die Strümpfe befestigten. Ferner trug es ein
ebenfalls rosafarbenes Unterröckchen aus Flanell, das an den Seiten und
hinten an das Leibchen angeknöpft war. Beinkleider trug das Kind nicht.
    Als besonderes Merkmal ist vorhanden eine Narbe auf der linken
Brust, die von einem früheren Geschwür herrührt.«
    Diese Plakate, die in einer Größe von einem Meter im Quadrat,
mit großer, fetter Schrift an allen Bahnhöfen der Eisenbahnstationen,
an den Wirtshäusern der Poststationen, an allen öffentlichen Gebäuden,
wie Rathäusern und Schulen, ja selbst an den Nebenportalen der Kirchen,
in allen Städten und Dörfern in weitem Umkreis des Landes bis zu seinen
Grenzen hin erschienen, trugen noch links oben angebracht die
Photographie des Kindes. Vierfach vergrößert tauchte jenes Bild des
Kindes, bei dessen Herstellung es sich so sehr gefürchtet hatte, bald
überall auf. Es hing in den Auslagen der strahlend erleuchteten
Geschäfte in den Städten, in den kleinen Schaukästen und an den
Ladentüren der Krämerläden in den Marktflecken und Dörfern.
    Wie zum Anblick gekrönter Fürsten drängten sich in Scharen die
Menschen zu seinem Bild; sein Name, groß und leuchtend gedruckt,
schwebte auf den Lippen, sein Schicksal rührte die Gemüter auf, hetzte
warme, ehrliche Anteilnahme, leidenschaftliche Neugier und
geldlüsternes Interesse in den Herzen der Menschen durcheinander. So
geschah es, daß nach kurzer Zeit schon die Behörden mit Nachrichten
über angebliche Spuren des Kindes überhäuft wurden. Diese Nachrichten
enthielten durchaus glaubwürdige, oft ganz und gar zutreffende
Beschreibungen des Kindes, mußten als wertvoll anerkannt und verfolgt
werden. Die Möglichkeit eines anderen Verbrechens wurde mehr und mehr
ausgeschaltet, und die Meldungen, daß das Kind gesehen worden war,
zogen die Erwartungen und die Aufmerksamkeit der Behörden in solchem
Maße auf sich, daß die Untersuchung Mühe hatte, alles zu

Weitere Kostenlose Bücher