Das verlorene Kind
sie sich aber darum niemals gekümmert hätten.
An Hand dieser Geständnisse wurden nun die beiden durch den
kleinen Knaben des Mordes bezichtigten Frauen ins Verhör genommen. Sie
brachen in Schluchzen und Weinen aus und sprachen lange Zeit nichts.
Erst als sie keine neuen Tränen mehr fanden, begannen sie zu erzählen.
Sie gaben den Mord zu, doch eine beschuldigte die andere der
Ausführung. Mit auffallender Übereinstimmung gaben sie beide die
gleichen Erklärungen ab. Die Mutter des Knaben sprach zuletzt.
»Die von meinem Sohne gemachte Aussage ist wahr. Die Aussage
der Pauline ist aber unwahr. Wir sind am 24. Juni in dem Forst
gewesen, der nach dem Dorfe Treuen führt. Dort war ein Herrenhof. Ich
schlich dahin und drehte mich in dem Hofe herum. Nach dem Mittagessen
kam ein kleines Mädchen zu mir heran und sagte zu mir einige Worte. Ich
konnte es nicht verstehen. Es war ein sehr schönes Kind mit blauen
Augen und goldenen Haaren. Es ist dasselbe Kind, welches mir hier in
der Photographie gezeigt wird. Ich habe keine Mädchen, nur zwei Söhne.
Ich habe das Mädchen an mich genommen und bin nach dem Wald gelaufen zu
unserem Wagen. Wir waren aber geteilt, nur der Wagen mit der weißen
Plane war bei uns. Ich kroch sofort mit dem Kind hinein. Geschrien hat
es nicht. Später, als wir mit dem schwarzen Wagen wieder zusammenkamen,
habe ich meinem Mann das Kind gezeigt Er hat mich geschlagen, ich habe
noch die Zeichen am Leibe. Wir haben dann das Kind in den schwarzen
Wagen getan. Am 4. Juli langten wir in Sch. an, wo uns auch
die gnädige Frau (die Zeugin Frau Dr. Fischer) besuchte, und
wo sie das Kind gesehen hat. Die Aussagen meines Neffen Franz sind
richtig. Ich hatte ihm gesagt, er sollte das Kind, wenn es aus dem
Wagen heraussieht, zurückstoßen und alte Kleider auf dasselbe decken.
Am Abend nun kam die Pauline und erzählte, daß wir wegen des Kindes von
Gendarmen verfolgt würden. Da dachte ich, man muß das Kind fortbringen.
In der Nacht, es kann wohl um 10 Uhr gewesen sein, habe ich
das Kind aus dem Wagen genommen und bin mit der Pauline in den Wald
gegangen. Erst habe ich das Kind getragen, dann die Pauline. Wir gingen
erst zusammen in den Wald hinein. Etwa hundert Schritte. Dann sagte die
Pauline, ich solle zurückbleiben. Wie sie weitergegangen war, hörte ich
nach einer Weile einen jämmerlichen Schrei. Dann war es wieder still.
Dann kam die Pauline zurück ohne das Kind. Ich habe mir gedacht, daß
sie das Kind umgebracht hat, ich habe aber doch gefragt: »Wo ist das
Kind?« Sie hat gesagt: »Es ist tot.«
Diese Geständnisse wurden vor allen Beteiligten verlesen.
Während die Zigeuner stumm, teilnahmslos und sichtbar erschöpft durch
die Haft und die ohne Unterlaß auf sie niederprasselnden Fragen und
Verhöre, Drohungen und Versprechungen dastanden, machte sich plötzlich
der taubstumme Zwerg durch heftige Gebärden und Zeichen bemerkbar. Man
fragte in der Zeichensprache, die er aber nicht verstand. Als man ihm
das Bild des Kindes vorzeigte, legte er aber heftige und deutliche
Zeichen der Verneinung ab, deutete auf die beiden Frauen und schüttelte
wiederum verneinend Kopf und Hände, geriet dabei mehr und mehr in große
Aufregung, sprang ungeduldig von einem Bein auf das andere und rollte
seine großen Augen in dem kleinen Kopf. Einer der beiden Polizisten
mußte lachen. Die Protokolle wurden nun geschlossen und die Zigeuner
abgeführt.
Am nächsten Tage reisten zwei Polizisten in Begleitung des
Kommissars und des Vaters Christian B. mit den beiden des
Mordes verdächtigten Frauen zurück nach Sch. Dort wurden die Frauen
zuerst dem Wirt im Gasthof »Krug« vorgestellt, der die beiden sofort
wiedererkannte und weiterhin bezeugte: »Ich habe ausdrücklich gesehen,
wie die mir hier vorgestellte Rosalie am 4. Juli abends mit
einem Kind auf dem Arm über meinen Hof hinaus auf die Straße ging. Die
Pauline habe ich nicht gesehen.«
Nunmehr begann die Suche nach der angeblich im Walde
verscharrten Leiche des Kindes. Die Frauen wurden nach dem nahen Walde
geführt, die ganze, von ihnen geschilderte Szene des Mordes an dem
Kinde sollte wiederholt werden. Doch sofort gerieten die beiden Frauen
wieder in Streit, jede beschuldigte die andere, das Kind am Rande des
Waldes auf die Arme genommen zu haben und mit ihm in das Dickicht
gegangen zu sein. Dann wieder, als sie voneinander getrennt vernommen
wurden, gestand die Rosalie Slicha, das Kind in einen
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