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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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nie wiedergesehen.«
    Plötzlich aber drängte sich ein zehnjähriger Knabe mit einem
bleichen, gefalteten Gesicht vor und begann freiwillig zu erzählen: »An
einem Montag, ich glaube, es war am Johannistag, gegen Mittag, da waren
wir in einem Dorfe eingekehrt. In dem Dorfe befand sich auch ein
Herrenhof. Ich und mein kleiner Bruder Wenzel sind dahin gegangen und
haben da Wasser getrunken. Als wir wieder zu unserem Wagen kamen, kam
meine Mutter mit einem fremden Kind. Das Kind hatte sie fest an ihrer
Brust. Geschrien hat es nicht. Erst als sie mit ihm im Wagen war, hat
es geschrien. Das Kind hatte so ein Kleid an wie auf dem Bild hier. Auf
dem ganzen Weg hierher war das Kind im schwarzen Wagen. Abends ist die
Mutter immer mit dem Kind fortgegangen, und am Morgen hat sie erst
wieder herangefunden. Wenn sie mit dem Kinde fortging, war stets die
Pauline bei ihr. Einmal, vor drei Tagen, als wir schlafen gehen
wollten, habe ich gesehen, wie meine Mutter das Mädchen in ein Laken
gewickelt hat und vor sich genommen. Sie ist dann mit der Pauline zum
Dorf hinausgegangen. Am anderen Morgen, als ich schon auf war und das
Pferd auch schon gefüttert war, kam meine Mutter mit der Pauline
zurück, aber sie hatte das Kind nicht mehr. Sie hat dann mit dem Vater
gesprochen, sie hat das Kind im Walde umgebracht. Sie hat ihm die Kehle
zugedrückt. Der Vater hat aber streng verboten, etwas davon zu sagen.«
    Mit diesen, alle Anwesenden aufs tiefste überraschenden
Aussagen der Kinder trat man nun wieder vor die Erwachsenen und las
ihnen die Protokolle vor. Die Männer blieben auch jetzt noch völlig
ruhig und schweigend, zuckten trotzig die Achseln. Dagegen gerieten die
Frauen, und besonders die beiden von den Kindern beschuldigten, die
Rosa Slicha und die Pauline S., in Unruhe, die sich steigerte,
als man ihnen einerseits mit Prügeln drohte und andererseits ihnen
Straflosigkeit und sogar einen Teil der ausgesetzten Belohnung
versprach, falls sie bekennen wollten, wo das bei ihnen erblickte Kind
geblieben sei und wenn es das von den Behörden und dem anwesenden Vater
gesuchte sei. Aus leise zwischen ihnen gemurmelten, unverständlichen
Worten entbrannte plötzlich ein lauter Streit, der sich schließlich auf
die beiden beschuldigten Frauen konzentrierte, die sich gegenseitig
laut und kreischend Schimpfworte zuschrien, zuletzt mit Schlägen
aneinandergerieten, sich an den Haaren rissen und an den Kleidern, so
daß zuletzt die Mutter des Knaben, der die Mordanklage ausgesprochen
hatte, mit zerfetzter Bluse dastand, ihre große braune Brust völlig
entblößt. Die jungen Zigeuner lachten, aber der Führer trat zwischen
die Frauen, riß sie auseinander und zischte ihnen ein leises Wort zu,
auf das sie beide sofort verstummten und auf die Fragen des Kommissars
nicht mehr zu antworten wagten.
    Die ganze Bande wurde abgeführt und das Verhör am nächsten
Tage erst fortgesetzt. Die Männer leugneten abermals, ein Kind bei sich
gehabt zu haben, die Frauen schwiegen. Zum Schein brach der Kommissar
das Verhör ab, und als der Führer der Bande sagte, man würde sie wohl
nun bald freilassen, da ihnen doch nichts Unrechtes nachzuweisen sei,
antwortete er nicht und zuckte in der gleichen Weise wie vorher die
Zigeuner die Achseln. Man behielt die Bande weitere drei Tage in Haft,
die man nach Möglichkeit verschärfte, und gab ihnen Spione in die
Zellen, bewachte genau ihre Gespräche und Bewegungen. Doch die Zigeuner
verhielten sich ruhig, schliefen meist, sangen leise in Gruppen, die
Mütter spielten mit ihren Kindern, nichts Verdächtiges oder Erklärendes
wurde gesprochen. Auch stellten die Eltern die Kinder wegen der
furchtbaren Aussagen nicht zur Rede. Endlich führte man sie wieder vor,
und der Kommissar ermahnte sie eindringlich, das Leugnen aufzugeben, da
sie doch auf diese Weise niemals weiterkommen würden. Sie sahen sich
untereinander an, es war, als ob sie sich ohne Worte berieten. Dann
begannen sie zögernd und vereinzelt zu sprechen, und zwar die jungen
Männer zuerst. Sie gaben plötzlich zu, daß ein fremdes Kind zeitweise
bei ihnen sich aufgehalten habe, und schließlich bekannten sie sogar,
daß sie in dem ihnen vorgelegten Bild der Anna B. dasselbe
Kind wiedererkannten. Dagegen verweigerten sie immer noch die Auskunft
über das Verschwinden des Kindes und behaupteten, daß die Weiber das
Kind unter sich gehalten und dieses vielleicht auch fortgebracht
hätten, daß

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