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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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    Am 8. Juli, drei Tage, bevor mit dem Schnitt der Ernte
begonnen werden sollte, kam die erste Nachricht von dem Wiederauffinden
des Kindes nach Treuen. Sie bestand aus einem Telegramm folgenden
Inhalts: »Laut Zeugen bei Zigeunern in W. blondes Kind gefunden,
identisch mit Anna B., kommt schnellstens.«
    Lange hielt Christian die Nachricht in der Hand. Er schloß die
Augen, horchte in die eigene Brust. Alles blieb still in ihm, kein
Gefühl regte sich. Im Tod erwartete er noch einmal Gott, im Tod fühlte
er sein Kind, an das Leben, an neue, verwirrende Hoffnungen konnte er
nicht mehr glauben. Er traf mechanisch die Vorbereitungen zur Reise,
zählte sein Geld und hinterließ nur wenige Bestimmungen für die Zeit
seiner Abwesenheit. Am 9. Juli, morgens fünf Uhr, brach er
auf. Er nahm von niemand Abschied. Nur Emma war bei ihm, reichte ihm
den Imbiß und den kleinen Reisesack. Dieser enthielt außer Wäsche und
Schuhen eine Kindertaille, die sie in der Nacht noch von dem
übriggebliebenen Stoff des rot- und grünkarierten Kleidchens und nach
genau demselben Schnitt zusammengenäht hatte, wie es das Kind am Tage
des Verschwindens getragen hatte. Der Herr sollte es als Beweis
mitnehmen, falls die Zigeuner, wie Emma es sich ausgedacht hatte, nun,
da sie verfolgt würden, dem Kinde falsche Kleider angezogen hätten. Mit
gefalteten Händen sah sie dem Herrn nach, als er davonfuhr. In ihr war
eine inbrünstige Hoffnung, daß er mit dem Kinde zurückkehren würde.
    Fritz kutschierte. Der Herr fuhr zuerst nach S.,
unterfertigte dort sein Testament bei dem Notar. Dann reiste er mit der
Post bis zur nächsten Bahnstation, wo er gegen Mittag ankam. Seit er
Treuen verlassen hatte, war ein seltsamer Zustand über ihn gekommen. Er
fühlte sich selbst, wie er ging, sprach und handelte, als Träumenden,
er fühlte sich im Innern leer, regungslos, wie gewaltsam gehalten
zwischen Schlaf und Erwachen. Als er zum erstenmal wieder nach vielen
Jahren einen Bahnhof erblickte, glaubte er sich zurückversetzt in seine
Jugend, da er als Jüngling mit der Bahn zu den Ferienzeiten in die
Heimat gefahren war. Auch daß er eilen mußte, da nur wenige Minuten bis
zur Abfahrt des Zuges blieben, weckte ihn nicht auf. Als er in
jugendlichen Schritten den langen Gang des Bahnsteiges durcheilte,
streifte ihn im Lauf der Anblick eines großen weißen Plakates mit
schwarzer Schrift: Menschenraub, und dann der Name Anna B.,
und darunter ein Bild: tiefe leuchtende Augen unter einer schönen,
reinen Stirn, ein kindlich lächelnder Mund, ein Händchen, erhoben mit
weisend ausgestrecktem Zeigefinger. Er stürmte vorüber, der Schaffner
rief, er stieg schnell ein, und der Zug fuhr. Er saß still und
erschöpft mit geschlossenen Augen da. Sanft fühlte er sich fortgetragen
von einer fremden Kraft. Er schlief ein und erwachte erst wieder am
Abend. Der Zug stand. Er hob die schweren Lider von den Augen, die
verdunkelt waren in ihrer Farbe, ohne Glanz, zwei steinern erloschene
Sterne, ohne Wunde mehr und ohne Schmerz. Er richtete den Blick durch
das Fenster, durch das ein kühler, vom Duft des nahen Meeres erfüllter
Wind eindrang und zart seine hohe Stirne umstrich. Er sah, in die blaue
Dämmerung des Sommerabends gehüllt, ferne die schweren, eckigen,
dunklen Türme einer Stadt, näher zu ihm dann die breite, sanft bewegte,
wie von einem aus sich selber hervorschimmernden Licht silbern erhellte
Fläche eines Flusses. Seine Ufer waren von tief sich niederbeugendem
Gezweig umgrenzt, und in sein Wasser, das sanft von Licht getönte,
bohrten sich große Kähne mit dunklen, in den samtnen Himmel ragenden
Masten ein, die sich leise darin bewegten. Der Zug fuhr langsam über
eine Brücke. Der Fluß und die Kähne wichen zurück, Gruppen dunkler
Bäume tauchten auf, noch im Angesicht der schwarz sich auftürmenden
Stadt breitete sich eine große, freie Wiese aus, und plötzlich
erschollen Menschenstimmen, Lachen und Musik. Lichtschein von Fackeln,
deren rötlicher Bauch gegen den blauen Nachthimmel stieg, beleuchtete
einen großen, abgegrenzten Kreis von Menschen, in deren Mitte dunkle
Gestalten in bunten Gewändern sich bewegten; braune Männergesichter,
schwarzes, wallendes Haar von Frauen, und ihre nackten, leuchtenden
Arme tauchten im Lichtkreis auf und nieder, Trommelwirbel erklang, neue
Lichtgarben schossen auf, und nun erblickte Christian sein Kind.
Schwebend in der Luft, den Rücken ihm

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