Das verlorene Kind
überall, und in der Mitte des Zimmers stand ein
mit Kerzen geschmückter, hoher Weihnachtsbaum.
»Wer hat das alles so schön gemacht?« fragte der Vater
freundlich.
»Die Mutter«, antwortete Gustav, der jüngere, leise.
»Nun ist sie tot, und die Schwester ist auch tot«, sagte Karl
und versuchte, es zu begreifen.
»Ja,« sagte der Vater, »Gott schickt uns viel Unglück. Ihr
seid noch jung und werdet es vergessen, und ich lebe noch und werde für
euch sorgen.«
Er setzte sich mit den Kindern und der Schwester um den Tisch,
sprach mit ihnen und nötigte sie zum Essen. Er beobachtete ihre
Gesichter, er bemühte sich, die Schatten von Schmerz und Verzweiflung,
die sich auf sie gelegt hatten, zu verscheuchen, und als er merkte, daß
die Traurigkeit von ihnen wich, schickte er sie hinaus und befahl
ihnen, die Reisesachen auszupacken, und Karl sollte von der großen
Reise erzählen.
Als die Kinder gegangen waren, schwiegen Bruder und Schwester
noch lange. Endlich fragte er: »Wie ist es gekommen?«
»Es ist plötzlich gekommen. Als ich sie zum ersten Male nach
deiner Abreise sah, saß sie in der Küche neben dem Herd. Sie sah zwar
noch sehr elend aus, und ihre Augen hatten einen unheimlichen Glanz,
aber sie war sehr lebhaft, nur schwach. Ich kam an jedem Sonntag, und
sie war immer wohler. Sie hat dann vor Weihnachten mit Emma angefangen,
das ganze Haus zu reinigen, vom Boden bis zum Keller. Sie hat hier die
Stube umgeräumt und frisch malen lassen. Sie ist sogar zweimal mit Emma
in die Stadt gefahren und hat Geschenke und Kerzen für Weihnachten
gekauft. Am Weihnachtsabend haben wir hier gefeiert, und sie hat alle
beschenkt und war ganz froh, ich habe noch gedacht, daß sie zu froh
sei. Aber in die Kirche ist sie nicht mitgefahren. Von dir hat sie die
ganze Zeit nichts gesprochen, und wenn wir gefragt haben, hat sie nicht
geantwortet«
»Hat sie meinen Brief noch bekommen?« fragte Christian.
»Ja, sie hat ihn bekommen.«
»Wann?«
»Als sie schon sehr krank war.«
»Wie ist sie so krank geworden?«
Die Schwester zögerte.
»Sage mir alles!«
»Wir sind am Heiligabend alle in die Kirche gefahren. Sie
wollte es so haben. Sie wollte nicht mit, wollte aber auch nicht, daß
ich bei ihr blieb. Ich fuhr dann mit, hatte aber gleich ein banges
Gefühl. Wie wir zurückkamen, war im Schlafzimmer noch Licht, aber als
ich hinaufkam, war es leer. Auch das Bettchen von Anna war nicht mehr
drin. Wir haben sie überall gesucht, und als wir auf den Boden kamen,
lag sie im Dunkeln da, neben einer ausgelöschten Kerze, und hatte Blut
vor dem Munde.« Die Schwester schwieg.
»Was wollte sie in der Nacht auf dem Boden?«
»Christian, sie hat das Kinderbett auseinandergenommen und
hinaufgetragen. Das war wohl zu viel für sie, und dabei hat sie einen
Blutsturz bekommen, sagte der Doktor.«
Lange schwiegen beide. Dem Mann war, als fühle er die Nähe
seiner Frau, ihren lebenshungrigen Körper, den er, der Todesgierige,
von sich gestoßen hatte.
»Wann hat sie meinen Brief bekommen?« fragte er wieder.
»Ungefähr eine Woche danach. Sie war ohne Bewußtsein, in hohem
Fieber. Ich habe ihn aufgemacht und habe ihn ihr dreimal laut
vorgelesen. Die ersten zweimal hat sie ihn, glaube ich, nicht
verstanden. Sie hat immer von einem neuen Kind gesprochen, das ein
neues Bettchen haben müßte. Dann an einem Tage war sie still, sah mich
auch ganz klar an. Da habe ich ihr noch einmal gesagt: »Martha,
Christian hat dir geschrieben, soll ich es dir vorlesen?« Sie hat mich
angesehen, aber nichts gesagt und sich nicht bewegt. Ich habe mich auf
ihr Bett gesetzt und habe ihn ihr ganz langsam, Wort für Wort,
vorgelesen.«
»Hat sie ihn verstanden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Sie hat erst lange nichts gesagt. Ich habe den Brief
zusammengefaltet und habe ihn ihr in die Hand gedrückt. Die Hand war
kalt, aber sie hat sie fest zugemacht. Nach einer Weile sagte sie dann,
ganz langsam und deutlich: 'Wir werden glücklich sein.' Und von da an
hat sie immer gelächelt, auch als sie tot war, hat sie noch gelächelt,
obwohl sie die letzte Nacht sehr viel ausgehalten hat.«
»Warst du bei ihr?«
»Ich und Emma. Es war sehr schwer. Es hat sie erstickt.«
Überwältigt von den Erinnerungen schwieg die Schwester, ihren schon
ausgeweinten Augen entstiegen nochmals Tränen. Es dunkelte schon, als
sie noch leise sagte: »Als der Krampf vorbei war, hat sie die Augen
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