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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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geschlossen und gelächelt. Es ist dann sehr leicht gegangen, wir
merkten nicht, als es vorbei war. Deinen Brief hatte sie noch in der
Hand. Ich habe ihn glattgestrichen und habe ihn ihr zuletzt auf die
Brust gelegt, unter das Hemd. Sie hat ihn mitgenommen.«
    Der Bruder griff nach ihrer Hand und hielt sie, heiß tropften
ihre Tränen darauf nieder.
    Als sie beide dann in der völligen Dunkelheit aufstanden, um
Licht zu machen, sagte die Schwester noch: »Ich kann gar nichts mehr
fühlen. Es ist zu viel, was wir durchmachen müssen.«
    »Ja,« sagte der Bruder, »es ist zu viel.«
    »Ich habe Gott so viel gebeten.«
    »Um was, Schwester?«
    »Um Erbarmen.«
    »Und ich wartete nur auf den Tod. Aber ich lebe, und die
andern sterben. Anderen wird Gott gnädig sein. Das ist mein Trost.«
    »Warum nicht uns?«
    »Im Sterben werde ich es sehen. Aber wie jetzt Gott hart zu
mir war, war ich auch hart zu Martha und den anderen Menschen. Und ich
werde nie mehr, wenn es in meiner Macht steht, hart zu einem Menschen
sein, und wäre es der Mörder meines Kindes. Das Leben hat sich mir
verhüllt nach langer Klarheit; vielleicht ist mein Tod schön.«
    Er hatte jetzt das Licht angezündet, und die Schwester sah ihn
an. Sein Gesicht hatte fast nichts Menschliches mehr. Umhangen von dem
weißen, wirren, langen Haar, war die Stirn glatt und von einem Schimmer
übergossen, der sich über die schweren Augenlider bis in die Furchen
der Wangen senkte und erst von dem wirren Bart aufgefangen wurde, der
den bitteren, festgeschlossenen Mund verhüllte. Während seine hohe
Gestalt in der Ruhe und in den Bewegungen ihre zu tiefst gebrochene
Kraft nun verriet, erhob sich auf dem Gesicht die Spannung und
Verklärung einer bis zum Letzten gesteigerten Kraft der Seele.
    Die Schwester wagte nicht, ihn nach der Reise, nach dem
Erlebnis mit dem Kind zu fragen.
    Er sah sich in der Stube um. »Ich werde wohl nicht mehr hier
unten schlafen. Martha hatte es nicht gern. Ich werde oben, in dem
Schlafzimmer schlafen. Wie sie es hier unten geordnet hat, so soll es
bleiben. Mußt du heute abend noch fort? Bleibe bei mir.«
    »Ich bleibe.«
    »Was denkst du? Ich will im Frühjahr die beiden Jungen wegtun,
in die Stadt, auf Schulen. Ich muß dafür ein paar Jahre noch hier gut
wirtschaften. Aber ich bin ja gesund. Wie geht es daheim, bei dir?«
    »Gut, Zu gut! Die Ernte war gut, und wir haben Fohlen hoch
verkauft. Aber ich will nichts davon wissen. Mein Mann trinkt und hat
nachts Atemnot.«
    »Kannst du nicht auf ihn achten?«
    »Ich pflege ihn. Bis jetzt habe ich umsonst gelebt. Ohne
Kinder. Ich habe ja gar nichts gehabt, kein Glück, kein Unglück. Du
bist von Gott geschlagen, aber ich bin von ihm vergessen, ich bin vom
Leben vergessen. Ich bin froh, wenn ich bei dir sein kann, wenn ich mit
euch jammern kann.«
    »Du kannst noch viel für mich tun,« sagte der Bruder weich,
»weinen und jammern für mich, denn ich kann es nicht mehr. Sage mir
auch, was ich dir schuldig bin für Marthas Begräbnis.«
    »Christian!«
    »Laß nur, das gehört alles dazu.«
    »Ich kann es nicht sagen.«
    »Dann bring mir die Papiere. Es muß in Ordnung kommen. Nicht
meinetwegen, für die anderen, die noch leben.«
    »Ich habe einen Platz gekauft in deinem Namen, Christian,
einen Platz für uns alle. Im Frühjahr wird er ausgebaut, du hast ihn
heute noch nicht sehen können.«
    Er trat zur Schwester und strich ihr über das dichte, weizengelbe Haar.
Sie hielt ganz still unter der Liebkosung, und beide fühlten in der
mühelosen Liebe des verwandten Blutes eine Welle von Glück ihre
ausgebrannten Herzen durchfluten.
    Die Geschwister gingen zum Abendessen an den großen
Gesindetisch in der Küche. Christian begrüßte alle und strich Emma, die
bei seinem Anblick von neuem in Schluchzen ausbrach, tröstend über die
Schultern. Die Söhne mußten an seiner Seite sitzen, und er blickte oft
auf ihre hochgewachsenen, biegsamen Gestalten, die das Antlitz der
Mutter trugen. Er richtete Fragen an sie, und die Antworten ihrer
hellen Stimmen verdrängten das lastende Schweigen, das alle mit
betrübten Mienen angenommen hatten, um dem Herrn ihre Anteilnahme zu
bezeigen. Ein allgemeines, leise summendes Gespräch entstand, und die
Gesichter erhellten sich. Es war warm in der Küche und das Essen gut.
Der Herr war wieder unter ihnen, und so gaben sich alle dem Funken
Freude hin. Sie blieben fast eine Stunde bei Tisch sitzen und lauschten
dem

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