Das verlorene Kind
Menschen, vergraben und auf den Wegen verirrt,
fand man erstarrt in dem tiefen Schnee. Hunger herrschte. Alle
arbeiteten, die ungeheuren Schneemassen auf Schlitten zu laden und sie
so nach dem Flusse zu bringen. Denn das war der einzige Ausweg. Die
Kälte stieg, der Schnee vereiste schnell, in großen Bergen und Blöcken
schaffte man ihn auf die Eisfläche des mächtigen, breiten Flusses, wo
er bald zu einem riesigen Gebirge sich auftürmte. Mit kleinen Ölfeuern
taute man die zugefrorenen Brunnen, die vereisten Schlösser der
Kirchen, die Riegel der Ställe auf, wo das Vieh, entkräftet von Hunger
und Frost, am Boden lag. Kleine Feuersbrünste entstanden und wurden mit
Schnee bald wieder gelöscht.
Stumm und namenlos mit den anderen allen arbeiteten der Vater
und der Sohn mit an dem Rettungswerk. Essen wurde ihnen gereicht, und
nachts schliefen sie irgendwo am warmen Ofen, weit ab von ihrem
Gasthaus. Doch am zweiten Tag schon begannen die Glocken wieder zu
läuten, gewaltig dröhnten sie über die noch halb verschüttete und
verstummte Stadt hin. Lichter erstrahlten wieder, die Heiligen
lächelten von ihren hohen Säulen herab, in schwarzen Zügen strömten die
Menschen auf den schmalen Spuren der Wege in die offenen Portale der
Kirchen, Gesang ertönte und Orgelspiel und die leidenschaftlichen Worte
junger Priester. Es lockte Christian, auch einzutreten und, auf den
Knien liegend, die Augen auf das Abbild Gottes gerichtet, Klang und
Worten zu lauschen, doch die schwere Botschaft, daheim in der Kirche,
in der großen Stunde der Entscheidung vernommen, stieg mächtig wieder
in seinem Herzen auf und erfüllte mit beidem, mit Licht und Finsternis,
zum letzten Male und für alle Zeiten seine Seele. Er zog den zögernden
Fuß von den Stufen der Kirche wieder zurück.
Sie fanden dann beide, ohne eigentlich zu suchen, in ihre
Herberge zurück und Zimmer und Gepäck in voller Ordnung. Da ihre
Barschaft, so gut sie auch vorgesorgt und berechnet war, zu Ende ging,
erwarteten sie mit Sehnsucht die Möglichkeit ihrer Abreise. Endlich,
nach einer Woche klaren Frostes, konnten sie zwei Plätze in der Post
erhalten, mit der sie auf Umwegen zur Grenze gelangen konnten. Beim
Abschied weigerte sich der Wirt, Geld von ihnen zu nehmen, außer einer
Belohnung für die Dienstmägde, und durch Gebärden und Umarmungen gab er
dem Vater zu verstehen, daß er ja auch in der Not wie ein Bruder
gehandelt und ihnen geholfen habe. So schied der Vater aus diesem
Lande, das alles Menschliche, Freude und Kummer, Liebe und Tod, ihm
menschlich gezeigt hatte, weise und voll Güte.
Die Reise war sehr beschwerlich, die Kälte fast unerträglich,
überall, auf den Feldern, umgab sie Tod, auf dem weißen Schnee lagen
die Leichen der Tiere, verendet unter Hunger und Frost.
Als sie endlich wieder auf heimatlichem Boden waren, sandte
Christian ein Telegramm voraus, das die Ankunft meldete. Als sie in S.
eintrafen, wurden sie von der Schwester erwartet, die in Trauer
gekleidet war. Tod empfing Christian auch hier. Martha, seine Frau, war
seit einer Woche schon begraben. Die Botschaft ihres Todes hatte ihn,
durch die Unwetter verzögert, nicht mehr erreicht, und ehe die
Heimgekehrten noch die Schwelle des heimatlichen Hauses betreten
konnten, führten ihre Schritte sie an das Grab, das Frau und Mutter
barg.
Zurückgekehrt vom Kirchhof, stiegen sie in den Schlitten und
fuhren heim. Der Wirtschafter war auch mitgekommen und lenkte. Sie
fuhren in den Hof ein und traten in das Haus. Der jüngere Sohn kam
herbeigelaufen, flog dem heimgekehrten Bruder um den Hals und weinte
fassungslos. Emma lief, die Schürze vor das Gesicht geschlagen, bei dem
Anblick des Herrn davon.
Christian stieg die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Die
Fenster waren verhängt, fahle Dämmerung erfüllte den Raum. Das breite
Ehebett war mit einem riesigen Laken überdeckt, das Bett des Kindes, zu
Füßen, fehlte. An seiner Stelle stand die Truhe, war geöffnet und leer,
und in ihrer dunklen Höhlung offenbarte sich ihm plötzlich der Tod der
Frau, den er an ihrem Grabe noch nicht hatte begreifen können. Er
verließ das Schlafzimmer wieder und ging hinunter. Er zog die beiden
völlig verstörten Söhne an sich und führte sie aus der Küche in das
Wohnzimmer.
Das war verändert. Die Möbel waren umgestellt, die Wände waren
neu bemalt und die Fenster mit neuen Gardinen geschmückt. Frische
Tannenreiser steckten
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