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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Herrn, der mit seinen Söhnen über die Reise sprach, über das fremde
Land, die großen Städte und über den Schneesturm, den sie mitgemacht
hatten. Nur von dem Kind sprachen sie in stiller Übereinstimmung nicht.
    Bald gingen alle zur Ruhe. Emma verlöschte als letzte das
Licht in der Küche und verschloß die Türen. Dann aber schlüpfte sie
noch einmal in die Kammer der Kinder, die sie noch wach, miteinander
flüsternd, in den Betten fand. Wie in der Kinderzeit setzte sie sich zu
ihnen auf das Bett. »Erzähl' doch von Anna«, bat sie den Ältesten,
während sie seine Stirn und sein Haar mit Küssen bedeckte. »Erzähle mir
doch, der Vater spricht ja nicht davon, habt ihr sie wieder nicht
gefunden?«
    »Doch,« entgegnete der Knabe, »wir haben ein kleines Kind
gefunden, es war genau wie unsere Anna.«
    »Hat es denn die Narbe gehabt?« fragte Emma, fiebernd vor
Erwartung.
    »Es hat keine Narbe gehabt, aber es war genau wie unsere Anna.«
    »Wie denn? Hat es solche Locken gehabt?«
    »Ja.«
    »Hat es auch so gelacht wie unsere Anna? Was hat es
gesprochen?«
    »Es hat zum Vater Papa gesagt. Es hat genau so gelacht und
gespielt wie unsere Anna.«
    »Lieber Gott!«
    »Wir wollten es auch mitnehmen, aber es ist ja gestorben.«
    »Es ist gestorben!« wiederholte Emma. »Es ist auch gestorben!«
    »Emma,« fragte der Knabe leise, »warum ist unsere Mutter
gestorben?«
    Emma stand auf, im Dunkeln suchte sie noch die Gesichter der
Kinder und küßte sie. »Ihr könnt das Vaterunser beten,« sagte sie noch
im Hinausgehen, »tut es, es ist zu viel Unglück hier im Hause.« Furcht
hatte sie befallen. Auch sie fühlte nun, es half keine Trauer, es gab
kein Gebet. Sie fand lange keinen Schlaf, Seufzer auf Seufzer
entstiegen schwer ihrer reinen, guten Brust.
    Nur im Schlafzimmer brannte noch Licht. Vor der offenen,
leeren Truhe zu Füßen des Bettes stand Christian lange, das Auge in
ihre kleine abgegrenzte Dunkelheit gesenkt. Er dachte an Martha, seine
Frau. Doch nichts Menschliches war in den Erinnerungen. Er konnte ihre
Gestalt, ihr Lächeln, ihre Sprache sich nicht zurückrufen, aber mit
Macht, mit rätselhafter Lebendigkeit fühlte er ihres Wesens Hauch,
fühlte er ihren nachtdunklen Blick in seinen Augen, der einst die
gefürchtete Finsternis der Kindheit um ihn geschlagen hatte, er fühlte
ihren Kuß, der ihn hinzog in die Tiefen der Umarmung. Er fühlte wieder
die dunklen Stunden der Geburten, in denen sie fern und gewaltig sich
von ihm geschieden hatte, und er fühlte die große Nacht ihres Todes, in
die sie versunken war und ihm nur die Nächte des Lebens zurückließ, die
grauen Schatten jener tiefsten Finsternis. Und als er das Licht
verlöschte und im Dunkeln sich in das von ihr für immer verlassene Bett
senkte, glaubte er, liebend und männlich noch einmal sich hinzugeben
dem dunklen Zauber ihres Verlangens. Mit geschlossenen Augen, ohne
Schlaf, lag er so die Nacht in Gedanken nur an die Frau.

VI
    Die Kälte des Winters stieg. Es war schwer, sich ihrer zu
erwehren. Die Holzvorräte waren schon jetzt, Mitte Januar, so stark
verbraucht, daß der Wirtschafter Blank mit Fritz ein paar Fuhren von
der königlichen Försterei kaufen und holen mußte, damit nicht in dem
kleinen Forst von Treuen gefällt zu werden brauchte, wo für dieses Jahr
nur noch gutes Nutzholz stand. Alles war tief vereist. Die Erde krachte
bei jedem Schritt, die Fensterscheiben sprangen, der Brunnen mußte mit
Mühe jeden Morgen aufgetaut werden, und in den Ställen fand man eines
Morgens ein Kalb, das am Rande der Herde gelagert hatte, erstarrt am
Boden. Die Pferde wurden in warme Decken gepackt und die Gelenke mit
wollenen Tüchern umwickelt. In den Geflügelställen hatte Fritz,
heimlich und stolz auf seinen Einfall, Tag und Nacht zwei brennende
Stallaternen aufgehangen, um so das Eis, das sich von der Feuchtigkeit
der Tiere um die Stangen gebildet hatte, aufzutauen. Vier große schwere
Schweine waren krepiert, da sie das Futter, das noch dampfend in die
Ställe gebracht wurde, damit es auf dem Wege über den Hof nicht
gefriere, kämpfend mit der sofort sich bildenden Eiskruste, zu heiß
verschlungen hatten. In der großen, hellen Küche erlosch das Feuer Tag
und Nacht nicht mehr. Bis spät abends brannte das Licht, und alle saßen
da versammelt. Erst wenn die Müdigkeit sie ganz übermannte, liefen die
Leute, tief in ihre Kleider vermummt, schnell ins Gesindehaus, und in
den Kleidern

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