Das verlorene Kind
legten sie sich in die eisigen Betten. Trotzdem erkrankte
niemand, und der Herr sorgte für alles. Um das knappe Holz für die
Katenwohnungen zu sparen, ließ er Arbeiten verrichten, die alle,
Tagelöhner, Arbeiter und Handwerker, möglichst lange in dem erwärmten
Hause vereinigen konnten. Da saßen in einer Ecke drei Mägde über
sorgsam gehüteten Federsäcken und schleißten Federn, in einer anderen,
am Fenster, saß der Tischler und schnitzte an den Truhen, die er für
der Söhne Reise im Frühjahr zimmerte. An den mittleren Fenstern hockten
in einem Kreis zusammen die Kinder und die jungen Hirtinnen, die Weiden
schälten, schnitten und zu Körben und Obsttragen verflochten. Der
riesengroße Tisch, der sonst die ganze Front der Fenster eingenommen
hatte, war jetzt an die Ofenseite gerückt. An seiner Mitte saß Emma und
nähte Wäsche oder strickte, ihr zu Seiten saßen vier ältere Weiber und
spannen. Zu den Stunden, in denen die Mahlzeiten gekocht wurden,
mischte sich in den Geruch von Menschen, Holz, Leim und Farbe auch noch
der Dunst des Essens. Aber dann war es auch am wärmsten. Sobald das
Feuer nur etwas nachließ, schlich sich die furchtbare Kälte ein, trotz
der handbreit mit Moos verstopften Fenster, trotz der mit Schafwolle
gepolsterten Türspalten. Alle begannen dann mit den Füßen zu stampfen,
im Zimmer umzuwandern, einen besorgten Blick durch die Fenster nach den
Ställen werfend, von wo ab und zu der Ruf eines Tieres dünn und klagend
durch das Schweigen der eisigen Luft herüberklang. Zweimal in der Woche
aber ließ Emma auf Befehl des Herrn die beiden kupfernen Kessel in der
Waschküche heizen, da das Wasser zum Waschen in dem unheizbaren
Gesindehaus stets gefroren war. Dann wuschen sich alle in dem warmen,
dampfenden Raum. An den Sonntagen hatte der Herr angeordnet, daß der
Wirtschafter eine Stelle aus der Bibel las, die eines der Kinder mit
geschlossenen Augen aufschlagen mußte; die Söhne beteten abwechselnd
das Vaterunser. Denn zur Kirche ging keiner mehr, seit Emma mit den
Kindern eines Sonntagsmorgens auf halbem Wege umkehren mußte, da die
eisige Kälte die Luft benahm und ihnen alle Glieder bis zum Herzen
erstarrt waren.
Der Herr war nur zu den Mahlzeiten unter ihnen. Aber sie
konnten fühlen, daß er, wie früher, wieder für sie sorgte und sie
überwachte. Er beriet sich viel mit dem Wirtschafter, wie er im
Frühjahr die Herden vergrößern, die Ernten steigern, aus dem Forst
Nutzholz am besten verkaufen könne, kurz, wie die Erträgnisse der Pacht
aufs möglichste zu steigern wären. Denn durch das Unglück waren nicht
nur in kurzer Zeit die ersparten Gewinne verzehrt, sondern auch
Schulden gemacht worden. Zudem stand seine Absicht fest, die Söhne im
Frühjahr in die Stadt auf Schule zu schicken. Auf die Einwendungen des
Wirtschafters, daß dies im Grunde doch durchaus nicht nötig sei, da die
Kinder nirgends besser lernen könnten als hier auf dem musterhaft
gehaltenen Gute, das doch alles umfaßte: Felder, Vieh, Jagd, Fischerei
und die Werkstätten dazu, konnte er sachlich nichts einwenden. Aber in
einer neuen, überraschenden Mitteilsamkeit bekannte er ihm, daß es ihn
dränge, die Kinder spätestens im Frühjahr wegzugeben, obwohl Geldsorgen
und Schwierigkeiten groß seien. Er habe ein Gefühl, daß jetzt, nach dem
vielen Unglück, noch Böses, Furchtbares im Hause geschehen werde. Und
davor sollten die Kinder behütet sein.
Zu den wirtschaftlichen Beratungen zog der Vater von Zeit zu
Zeit auch den ältesten Sohn herbei und übergab ihm die kleine
Buchführung über die Milchwirtschaft, die früher die Frau geführt
hatte. Der Knabe war sehr stolz auf dieses Amt, doch hatte er nur wenig
zu tun. Die Kühe gaben wenig Milch, es konnten nur mit großer Mühe
kleine Mengen verbuttert werden, da die Milch sofort vereiste. Zum
Markt fuhr niemand mehr. Es wurden viele Hühner geschlachtet, da sie
bei der Kälte nicht legten, zu den Kartoffel- und Gemüsegruben konnte
man nicht gelangen, so tief und fest war die Erde gefroren. Aber trotz
dieser schweren Zeit war ihnen allen jetzt das Leben leichter, das
schwere, unfaßbare Unglück war zurückgewichen vor den Kümmernissen,
Mühen und kleinen Freuden der Gegenwart. Wenn sie alle in der riesigen
Küche um den großen, wärmeausstrahlenden Herd sich zusammendrängten,
durch die Fenster die gefährliche, strahlende Pracht der Wintertage
hereinleuchtete und sie sich drinnen
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