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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Schwester, Emma und die anderen.
    Lebe wohl, ich umarme Dich innigst, Dein Mann
Christian B.«
    Im Morgengrauen, als die andern noch schliefen, rief er leise
der Magd, die in der Küche schon hantierte, und schickte sie mit dem
Brief zur Post.
    Die nächsten Tage ging es dem Kinde besser, es bekam ein Kleidchen
angezogen, und der Vater trug es im Zimmer umher, sang ihm Lieder vor,
nach deren Takte er schritt. Karl, mit dem es sich nun auch langsam
befreundet hatte, kroch auf allen vieren am Boden und ließ es auf
seinem Hucken reiten. Doch am fünften Tage nach dieser Besserung hatte
es wieder hohes Fieber und lag apathisch in seinem Bettchen. Sein
Lachen war verstummt.
    Am nächsten Morgen kam seine Mutter. Sie hatte sich
legitimiert als die Frau eines Arbeiters in Deutschland, die ihren Mann
verlassen hatte und einem Landstreicher gefolgt war, und war aus der
Haft entlassen worden. Sie war in schmutzige Lumpen gehüllt und hatte
ein von Leidenschaften und Entbehrungen gleicherweise ausgezehrtes
Gesicht. Sie begehrte, das Kind zu sehen, und wurde an sein Bettchen
geführt. Kaum sah sie das ruhig schlafende Kind, als sie einen lauten
jammernden Schrei ausstieß. »Es stirbt, ach Gott, es stirbt!« rief sie
unter Schluchzen. Das Kind erwachte, und bei ihrem Anblick jauchzte es
auf, mit seinen schwachen Kräften strebte es, sich zu erheben, schlang
die Ärmchen um die Mutter und preßte sich fest an ihre Brust. Als es
dann wieder erschöpft zusammenfiel, ließ es sich ruhig wieder in sein
Bettchen legen, und die Mutter verließ unter einer Flut von Tränen das
Zimmer und die Wohnung und ließ sich nie wieder sehen.
    Am Morgen des ersten Weihnachtstages fand man das Kind tot in
seinem Bettchen. Es war am Abend still und friedlich eingeschlafen.
Gegen Morgen erst hatte es die an seinem Bettchen wachende Professorin
verlassen, und als sie mit dem Vater am Tage wieder zu ihm kam, die
Arme voll neuer Spielsachen, erwachte es nicht mehr. Niemand war bei
ihm gewesen, als es seinen letzten Atem verhauchte.
    Es wurde in einen kleinen weißen Sarg gelegt, der, mit
silbernen Sternen verziert, nach der Sitte des Landes von hohen
brennenden Kerzen Tag und Nacht umstellt war. Mit der traurigen
Sicherheit, die sie bei dem Tod des eigenen Kindes sich erworben hatte,
hatte es die Professorin gewaschen und gekleidet, sein vom Todesschweiß
verwirrtes Haar geglättet, die geballten Händchen gelöst und um einen
Zweig von Tannengrün ineinander gefaltet.
    Der Vater stand vor der kleinen Leiche, dem Ebenbild seines
Kindes. Entsetzen in der Brust, sah er hier seinen von Anbeginn
gefühlten, verzweifelten Glauben, daß sein verlorenes Kind tot sei, wie
in einem überirdischen Spiegel vorgezeigt, strafend erfüllt.
    Leise schluchzte der Sohn, und lautlos weinte die fremde Frau.
Der Professor stand in einer Ecke des Zimmers: stumm den Kopf gesenkt,
die Hände auf dem Rücken gefaltet, empfand er Trauer, daß das Gute, das
er hatte stiften wollen, zunichte gegangen sei.
    Sie forschten am nächsten Tage nach der Mutter des Kindes und
erfuhren in der Herberge, in der sie gewohnt hatte, daß sie sich mit
einem anderen Vagabunden zusammengetan und die Stadt verlassen habe.
    Am vierten Tage begruben die fünf Menschen, der Professor, die
Frau, Christian B., sein Sohn und die alte Magd, die auch dem
Sarge folgen wollte, das Kind auf dem Kirchhof der fremden Stadt, in
der Reihe der fremden Toten, und errichteten auf dem kleinen Grab ein
hölzernes Kreuz, mit geschnitzten Rosen und Engeln verziert, das nur
den Namen »Anna« trug. In den ersten Tagen des Januar nahmen sie
voneinander Abschied, und Vater und Sohn traten die Heimreise an.
    Der Vater hatte noch auf eine Botschaft von daheim gewartet,
doch nichts war gekommen. Sie brachen an einem dunklen, stürmischen
Wintermorgen auf. Neuer Schnee fiel so stark, daß sie nur mit Mühe den
ersten Teil der Reise vollenden und die große Stadt am Gebirge
erreichen konnten. Hier wurden sie drei Tage aufgehalten durch
ununterbrochen tobende Schneestürme, die die Straßen und Wege
vollständig verschütteten. Schwarze Wolken hingen am Himmel, und der
Tag war nicht mehr als eine fahle Dämmerung. Endlich, in der vierten
Nacht, legte sich der Sturm, Licht ging wieder auf, und weiß und klar
gefegt erschien der Himmel. Aber die Verwüstungen auf der Erde waren
groß. Dächer und kleinere Häuser der Stadt waren von der Last des
Schnees eingedrückt,

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