Das verlorene Kind
Die Narbe
fehlte.
Inzwischen war die Bettlerin, der man das Kind abgenommen
hatte, festgenommen worden. Sie konnte sich zwar nicht legitimieren,
behauptete aber, daß das Kind ihr eigen sei, sie wolle es aber gern
herschenken, da es ohnedies krank sei, und es überall besser haben
würde als bei ihr. Man behielt sie, noch in Erwartung ihrer
Ausweispapiere, in Gewahrsam.
Der Vater verbrachte die Tage nur bei dem Kind. Sie spielten
zusammen, er beugte seinen schweren Nacken zu ihm nieder, und das Kind
schlang seine Ärmchen um ihn und sprudelte sein Lachen ihm ins Ohr. Es
spielte mit seinen Händen, schmiegte sein Gesichtchen hinein, spielte
mit dem Ring an seinem Finger und sang oder sprach leise vor sich hin.
Es glich dem verlorenen eigenen Kind so sehr, daß der Vater oft in
hilfloser Verwirrung vor ihm stand. Es nannte ihn vom ersten Augenblick
an Papa und erwies ihm die liebevollsten Zärtlichkeiten. Doch Karl, den
Sohn, erkannte es nicht, abweisend streckte es gegen ihn die Ärmchen
aus, und ganz vergebens war es, wenn der Vater das Kind an die Mutter
oder an die Heimat, an das Haus mit dem Garten, an den Teich mit den
Enten, an die Pferdchen, an all die Dinge, die sein Kind so geliebt
hatte, erinnerte. Nach der Mutter gefragt, verzog sich sein Gesichtchen
sofort zum Weinen, es schien sich zu fürchten und verlor alle
Heiterkeit.
Seine Krankheit nahm immer mehr überhand, und trotz der
sorgfältigsten und liebevollsten Pflege schwanden seine Kräfte dahin.
Doch hofften noch alle, daß es gerettet werden könnte. Eines Abends
hatte der Vater lange noch bei dem schlafenden Kind gesessen und sein
Gesichtchen betrachtet. Er dachte an die Frau. Nach langer Zeit drängte
es ihn, zu ihr zu sprechen, Mitteilung zu geben von dem, was er fühlte.
In der Nacht wartete er, bis der Sohn schlief, stand dann leise auf,
suchte sich Papier und schrieb folgenden Brief an seine Frau: »Geliebte
Frau! Nach der langen Reise bin ich hier mit Karl gut angekommen und
habe das Kind gefunden, das dem unseren so sehr gleicht, im Aussehen
und in allem seinem lieben Wesen, daß ich Dir depeschiert habe wegen
der Narbe auf der Brust. Doch dieses Merkmal fehlt, und das große
Glück, unser liebes Kind wiedergefunden zu haben, ist uns nicht
beschert. Die furchtbare Frage, wo es ist, ob es lebt, ob es noch in
den Händen böser Menschen sich befindet, oder ob es selbst vielleicht
schon zu einem verdorbenen, bösen Menschen geworden ist, oder ob es tot
schon in der Erde ruht, durch eine unerforschliche Bestimmung wird uns,
den Eltern, keine Antwort.
Geliebte Frau, ich will Dich um Verzeihung bitten, deshalb
schreibe ich, denn Du sollst es bald wissen, und vielleicht muß ich
längere Zeit hierbleiben. Ich habe Dich von mir gestoßen, und ich bin
nicht zu Dir gekommen, und doch habe ich gefühlt, wie Du auf mich
gewartet hast. Aber ich war im Tode bei lebendigem Leibe und Du noch im
Leben. Aber jetzt ist mir, als sei ich auferstanden, und ich muß zurück
zu Dir. Du wirst mich vielleicht nicht verstehen, denn ich habe zu
lange geschwiegen, und nicht zu Dir gesprochen, aber es mußte sein.
Als ich das Kind hier sah, das dem unseren so sehr gleicht,
das auch Anna heißt und zu mir Papa sagt, wie unser liebes Kind, fühlte
ich doch sofort, daß es nicht unser Kind war, denn als ich es küssen
wollte, fühlte ich nicht Dich, die Mutter, in ihm. Ich habe Dich
gesucht vom ersten Augenblick meines Lebens an, wenn ein Mann an die
Frau denkt. Und ich habe Dich gefunden, und Du bist mir gefolgt, nun
verzeihe mir, daß ich Dich von mir gestoßen habe.
Ich habe den Plan gefaßt, daß ich das Kind, wenn seine
Herkunft festgestellt sein wird und es wieder gesund ist, mit zu uns
nach Hause bringen will. Wir werden es lieben und aufziehen, auch wenn
es nicht unser Kind ist, und es soll unser Kind werden, nicht dem Blute
nach, aber durch die Liebe, mit der wir es aufnehmen und für es sorgen
wollen.
Lebe wohl, liebe Frau, hoffentlich bist Du schon ganz gesund,
der Arzt sagte mir bei meiner Abreise, es sei nicht so schlimm. Denke
an das Haus, und Blank soll gut für das Vieh sorgen, es ist unser
Vermögen für die nächste Zeit. Karl geht es sehr gut hier, er staunt
die fremde Welt an und liebt die Schwester.
Die Behörden sind überall eifrig, und die ganze Welt weiß von
unserem Unglück, doch ein Höherer ist im Spiele, und alles Menschenwerk
ist vergeblich.
Lebe wohl, grüße den Sohn, die
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