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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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doppelt geschützt vor ihrem
eisigen Atem der Arbeit hingeben konnten, die leicht war und mit
Freuden ihnen von der Hand ging, da fühlten sie sich froh und
zufrieden, erzählten und lachten und summten dem hereinsinkenden Abend
entgegen mit leisen Stimmen gemeinsam ein Lied, einen Choral oder ein
Weihnachtslied, das sie am Fest nicht hatten singen können, da die Frau
im Sterben gelegen hatte.
    Nur in zwei Menschen war neue und böse Unruhe erwacht, in den
beiden Menschen, die gerade während der schlimmsten und bedrücktesten
Zeit mit sich selbst in Frieden gelebt hatten, in Emma, der Mutter, und
Fritz, ihrem Sohn.
    Vorgeahnt seit dem Tode der Herrin, erweckt durch dieses
seltsame, fast mit Gewalt herbeigerufene Sterben der schon genesenen
Frau, dann klar aufgetaucht an dem Abend, da der heimgekehrte Sohn des
Herrn ihr von dem Tode des Kindes Anna im fernen Land erzählt hatte,
war jener große geheime Schrecken in ihr, um welches bösen Menschen
willen das viele Traurige, das nun nicht mehr Unglück allein war, das
Böses, Fluch oder Strafe bedeuten mußte, geschah. Emma ward von da an
ganz verändert Ihr Herz, das bis dahin selbst in tiefster Trauer und
Verzweiflung noch immer geliebt hatte den stummen, einsamen Herrn, die
zerstörte Frau, die verwaisten Kinder und mehr noch als je und
beglückender als je den eigenen Sohn, war nun angefüllt mit kalter
Furcht, mit angstvollem Mißtrauen gegen alle. Mit geheim forschenden
Blicken, nicht mehr mit bedingungsloser, liebender Hingabe betrachtete
sie den Herrn, überprüfte sein Wesen in all der Zeit und dachte mit
Verwunderung daran, daß er jetzt heiterer war als früher, jetzt, da
doch alles verloren war und er hätte am traurigsten sein müssen. Mit
Mißtrauen betrachtete sie jeden einzelnen aus dem Gesinde, wenn es
ahnungslos um sie herumsaß, und rief sich den Lebenswandel jedes
einzelnen ins Gedächtnis. Aber die Sünden, von denen sie wußte, waren
nicht viel und nicht groß. Ein paar unerlaubte Küsse zwischen einem
verheirateten Knecht und einer jungen Tagelöhnerin waren bald entdeckt
und durch ein paar Ermahnungen des Herrn zur Ordnung gebracht worden,
kindliche Diebstähle zwischen jungen Mägden um ein Tuch oder eine Kette
waren geschlichtet und bestraft worden, es wurde gebetet und
gearbeitet, und warum sollten die Gedanken schlimmer sein als die
Taten, so daß Strafe und böses Verhängnis über dem Hause lasten mußte?
Auf Zucht und Ordnung war stets streng gehalten worden, und tagaus
tagein war nichts geschehen als die paar Späße im Stall, es war nicht
einmal nötig gewesen, ein Mädchen schnell zu verheiraten, seit dem
vorigen Erntefest war niemand betrunken gewesen, es hatte keinen Streit
gegeben. Woher nun das Böse, wer war unter ihnen, um dessentwillen sie
heimgesucht wurden? Emma wurde menschenscheu und mußte oft ihre
angstvollen, mißtrauischen Blicke verbergen, denn sie schämte sich
ihrer. Dann sagte sie sich wieder, daß das Unglück doch nun vorbei sei,
das Traurigste sich doch nun erfüllt habe, das Kind unwiederbringlich
verloren war, die Frau tot. Aber sie trieb eine andere erwartungsvolle
Unruhe. Sie betrachtete auch ihren Sohn verstohlen, wenn er es nicht
sah, aber sie bemerkte nur, daß sein schönes, volles Gesicht schmaler
und blasser geworden war. Mit Rührung erinnerte sie sich daran, wie
unermüdlich und schwer er diesen Sommer gearbeitet hatte, und sie schob
ihm besonders große und gute Bissen zu. Da sie, Mutter und Sohn, jetzt
fast ununterbrochen in der Gemeinschaft mit den anderen lebten und
nicht mehr wie früher in den Morgenstunden zufällig sich allein
begegneten, konnten sie sich nicht mehr die kleinen zärtlichen
Umarmungen erweisen, die so spät erst zwischen ihnen erstanden waren.
Oft machte sie sich Vorwürfe, ihn in seiner Kindheit nicht zärtlicher
geliebt zu haben, und jeden Abend betete sie für ihn. Nein, während der
schlimmsten Zeit, inmitten der größten Verzweiflung, inmitten der
verfinsterten Gemüter hatte sie ihn allein stets heiter, furchtlos,
unverändert gesehen. Wenn sie an den Gesang seiner schönen, sanften
Stimme zurückdachte, wie er an den Kirchentagen von der Empore
herabgeklungen war, dann hielt sie ihn für auserwählt, als den einzigen
unter ihnen, der rein und schuldlos war.
    Er aber, der in der Weite und Freiheit der sommerlichen Zeit
so leicht und gut sich selbst, dem Abgrund seiner Seele hatte
entfliehen können, saß nun

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