Das Verlorene Labyrinth
erkannte Paul Authié von den Fotos wieder. Auf diese Entfernung sah es nicht so aus, als wären sie ihm gerecht geworden.
Ihr Fahrer ging zur Haustür und klingelte. Sie beobachtete, wie Authié sich umwandte und durch die Balkontür verschwand. Als ihr Chauffeur für sie die Wagentür öffnete, stand Authié schon im Eingang, um sie zu begrüßen.
Sie hatte ihre Garderobe sorgfältig ausgewählt, ein blassbraunes, ärmelloses Leinenkleid mit passendem Blazer, formell, aber nicht zu streng. Sehr schlicht, sehr elegant.
Aus der Nähe betrachtet, bestätigte Authié den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte. Er war groß und sportlich und trug einen saloppen, aber gut geschnittenen Anzug und ein weißes Hemd. Sein Haar war glatt nach hinten aus der Stirn gekämmt und betonte die feinen Züge seines blassen Gesichts. Ein beunruhigender Blick. Doch unter dem urbanen Äußeren witterte Marie-Cecile die Entschlossenheit eines erbitterten Kämpfers.
Zehn Minuten später, nachdem sie sich ein Glas Wein hatte einschenken lassen, konnte sie den Mann, mit dem sie es zu tun hatte, schon ein wenig besser einschätzen. Marie-Cecile lächelte, als sie sich vorbeugte und ihre Zigarette in dem schweren Glasaschenbecher ausdrückte.
»Bon, aux affaires. Ich denke, dazu sollten wir hineingehen.« Authié trat beiseite, um ihr den Vortritt durch die Balkontür in das makellose, aber unpersönliche Wohnzimmer zu lassen. Helle Teppiche und Lampenschirme, Stühle mit hoher Rückenlehne um einen Glastisch.
»Noch etwas Wein? Oder kann ich Ihnen etwas anderes anbieten?«
»Pastis, wenn Sie haben.«
»Auf Eis? Mit Wasser?«
»Auf Eis.«
Marie-Cecile setzte sich in einen der cremefarbenen Ledersessel zu beiden Seiten eines kleinen gläsernen Couchtisches und sah zu, wie er die Getränke zubereitete. Ein Hauch Anisaroma erfüllte den Raum. Authié reichte ihr den Pastis und setzte sich in den Sessel gegenüber.
»Danke«, sagte sie mit einem Lächeln. »Also. Paul. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch einmal von Ihnen den genauen Ablauf der Ereignisse hören.«
Falls er gereizt war, ließ er es sich nicht anmerken. Sie beobachtete ihn genau, während er sprach, doch sein Bericht war klar und präzise und entsprach bis ins Detail dem, was er ihr zuvor schon erzählt hatte.
»Und die Skelette selbst sind nach Toulouse gebracht worden?« »In die Abteilung für forensische Anthropologie an der dortigen Universität, ja.«
»Wann rechnen Sie mit ersten Ergebnissen?«
Statt einer Antwort gab er ihr den weißen DIN-A4-Umschlag, der auf dem Tisch lag. Also doch nicht über ein bisschen Effekthascherei erhaben, dachte sie.
»Jetzt schon? Das ging aber schnell.«
»Jemand schuldete mir noch einen Gefallen.«
Marie-Cecile legte sich den Umschlag auf den Schoß. »Danke. Ich werde das später lesen«, sagte sie ruhig. »Sie könnten mir doch schon mal das Wichtigste zusammenfassen. Sie haben den Bericht gelesen, vermute ich?«
»Es ist nur ein vorläufiger Bericht, bis die Ergebnisse weiterer, genauerer Tests vorliegen«, gab er zu bedenken.
»Verstehe«, sagte sie und lehnte sich zurück.
»Es handelt sich um ein männliches und ein weibliches Skelett. Geschätztes Alter siebenhundert bis neunhundert Jahre. Das männliche Skelett zeigte Spuren von nicht ausgeheilten Verletzungen des Beckens und im oberen Bereich des Oberschenkelknochens, was darauf schließen lässt, dass die Verletzungen kurz vor Eintritt des Todes erfolgten. Es wurden auch Spuren älterer, ausgeheilter Frakturen des rechten Arms und des Schlüsselbeins festgestellt.«
»Wie alt?«
»Erwachsen, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht uralt. Irgendwas zwischen zwanzig und sechzig. Durch weitere Tests kann dieser Zeitraum vermutlich noch eingegrenzt werden. Für die Frau gilt derselbe Zeitrahmen. Die Hirnschale war an einer Seite eingedrückt, was entweder durch einen Schlag auf den Kopf oder einen schweren Sturz verursacht worden sein könnte. Sie hatte mindestens ein Kind geboren. Zudem gab es Hinweise auf eine ausgeheilte Fraktur des rechten Fußes und auf einen nicht ausgeheilten Bruch des linken Ellenknochens zwischen Ellbogen und Handgelenk.«
»Todesursache?«
»Da will sich der Anthropologe so früh noch nicht festlegen, und es dürfte seiner Meinung nach auch schwer werden, eine eindeutige Diagnose zu stellen. Angesichts der Zeitspanne, um die es hier geht, sind die beiden vermutlich an dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren
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