Das Verlorene Labyrinth
Yves' persönliche Habe ausgehändigt? Die Sachen, die er anhatte, als er eingeliefert wurde, den Inhalt seiner Taschen?«
»Seine Sachen waren ... hinüber. Inspektor Noubel hat gesagt, in den Taschen hatte er nur sein Portemonnaie und seine Schlüssel.«
»Sonst nichts? Keine carte d'identité , keine Papiere, kein Handy? Findet er das nicht seltsam?«
»Er hat nichts weiter dazu gesagt«, antwortete sie.
»Und seine Wohnung. Haben sie da irgendetwas gefunden? Unterlagen?«
Jeanne zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Ihr fiel etwas ein. »Ich habe einen von seinen Kollegen gebeten, mir aufzuschreiben, wer alles am Montagnachmittag an der Ausgrabungsstätte war.«
Sie reichte Baillard einen Zettel mit Namen darauf. »Aber die Liste ist nicht vollständig.«
Er warf einen Blick darauf. »Und was ist das?«, erkundigte er sich und zeigte auf den Namen eines Hotels.
Jeanne sah auf den Zettel. »Du wolltest doch wissen, wo die Engländerin wohnt.« Sie stockte. »Wenigstens ist das die Adresse in Carcassonne, die sie dem Inspektor genannt hat.«
»Dr. Alice Tanner«, flüsterte er tonlos. Nach so langer Zeit war sie zu ihm gekommen. »Dann werde ich meinen Brief an diese Anschrift schicken.«
»Ich könnte ihn für dich abgeben, wenn ich wieder nach Hause fahre.«
»Nein«, sagte er scharf. Jeanne sah ihn erstaunt an. »Entschuldige«, bat er rasch. »Danke für dein Angebot, aber ... ich glaube, es wäre nicht gut, wenn du nach Hause fährst. Zumindest vorläufig.«
»Warum denn das nicht?«
»Sie werden bald herausgefunden haben, dass Yves dir den Ring geschickt hat. Vielleicht wissen sie es auch schon. Bitte, bleibe bei Freunden. Fahr mit Claudette irgendwohin, egal, wo. Zu Hause bist du nicht sicher.«
Zu seiner Verwunderung erhob sie keine Einwände. »Seit wir hier angekommen sind, hast du die ganze Zeit über die Schulter geschaut.«
Baillard lächelte. Er hatte geglaubt, seine Nervosität vor ihr versteckt halten zu können.
»Und was ist mit dir, Audric?«
»Bei mir ist das etwas anderes«, sagte er. »Auf diesen Moment habe ich gewartet, schon seit ... jedenfalls länger, als ich sagen kann, Jeanne. So soll es sein, wohl oder übel.«
Jeanne schwieg einen Moment.
»Wer ist sie, Audric?«, sagte sie leise. »Diese junge Engländerin? Warum ist sie dir so wichtig?«
Er lächelte, aber er konnte nicht antworten.
»Wo willst du von hier aus hin?«, fragte sie schließlich.
Baillard schnappte nach Luft. Das Bild seines Dorfes stand ihm plötzlich vor Augen, so wie es einmal gewesen war.
»Oustäou«, antwortete er ruhig. »Ich werde heimkehren. A la perfin.« Endlich.
Kapitel 41
S helagh hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt.
Sie wurde in einem Stall oder einer Art Verschlag festgehalten. Es roch beißend nach Kot, Urin, Stroh, und dann war da noch ein widerwärtig süßlicher Gestank; wie von verdorbenem Fleisch. Ein weißer Lichtstreifen fiel unter der Tür durch, aber sie konnte nicht sagen, ob es später Nachmittag oder früher Morgen war. Sie wusste nicht einmal mehr, welcher Tag heute war.
Der Strick um ihre Beine scheuerte und reizte die wunde, aufgeschürfte Haut an den Knöcheln. Ihre Handgelenke waren gefesselt, und sie war an einen Metallring in der Wand gebunden. Shelagh bewegte sich, suchte nach einer etwas bequemeren Position. Insekten krabbelten ihr über Hände und Gesicht. Sie war überall gestochen worden. Auch die Handgelenke waren von dem Strick wund gescheuert, und die Schultern waren steif, weil sie die Arme schon so lange auf dem Rücken hatte. In den Ecken des Verschlages raschelten Mäuse oder Ratten im Stroh, aber sie hatte sich an sie gewöhnt, so wie sie auch die Schmerzen schon nicht mehr wahrnahm.
Wenn sie doch nur Alice angerufen hätte. Ein weiterer Fehler. Shelagh fragte sich, ob Alice es weiter versucht oder aufgegeben hatte. Falls sie das Team im Ausgrabungshaus angerufen und erfahren hatte, dass sie vermisst wurde, hatte sie doch bestimmt gemerkt, dass irgendwas nicht stimmte, oder? Und was war mit Yves? Brayling hatte die Polizei verständigt...
Shelagh spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Wahrscheinlicher war, dass noch niemand ihr Verschwinden bemerkt hatte. Etliche Kollegen hatten angekündigt, ein paar Tage wegzufahren, bis sich die Situation geklärt hatte. Sie gingen vielleicht davon aus, dass sie das Gleiche getan hatte.
Sie hatte längst keinen Hunger mehr, aber sie war durstig. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ein
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