Das Verlorene Labyrinth
Stück Schmirgelpapier verschluckt. Das bisschen Wasser, was sie ihr gegeben hatten, war weg, und sie leckte sich immer und immer wieder über die rissigen Lippen. Sie versuchte sich zu erinnern, wie lange ein normaler, gesunder Mensch ohne Wasser überleben konnte. Einen Tag? Eine Woche?
Shelagh hörte Kies knirschen. Ihr Herz verkrampfte sich, und Adrenalin schoss ihr durch den Körper, wie jedes Mal, wenn sie draußen ein Geräusch vernahm. Bis jetzt war noch niemand hereingekommen.
Sie zog sich in eine sitzende Position hoch, als das Vorhängeschloss geöffnet wurde. Ein schweres Klirren ertönte, als eine Kette herabfiel, sich in dumpf rasselnden Spiralen zusammenrollte, dann das Geräusch der Tür, die in den Angeln bebte. Shelagh drehte das Gesicht weg, als blendendes Sonnenlicht in die Finsternis der Hütte fiel und ein dunkler, stämmiger Mann sich unter den Türsturz duckte. Trotz der Hitze trug er eine Jacke, und seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Instinktiv drückte Shelagh sich rückwärts gegen die Wand, schämte sich über den festen Knoten aus Angst in der Magengrube. Der Mann durchquerte die Hütte mit zwei Schritten. Er packte den Strick und zerrte sie auf die Beine. Dann zog er ein Messer aus der Tasche.
Shelagh zuckte zusammen, wollte zurückweichen. »Non«, flüsterte sie. »Bitte nicht.« Sie hasste den flehenden Tonfall ihrer Stimme, konnte ihn aber nicht verhindern. Panik hatte ihr allen Stolz genommen.
Er lächelte, als er ihr die Klinge dicht an den Hals hielt und dabei schlechte gelbe Raucherzähne zeigte. Er griff hinter sie und durchtrennte den Strick, mit dem sie an die Wand gefesselt war, dann riss er daran und zerrte sie vorwärts. So schwach und desorientiert, wie sie war, verlor Shelagh das Gleichgewicht und fiel schwer auf die Knie.
»Ich kann nicht gehen. Sie müssen mich losbinden.« Sie blickte auf ihre Füße. »Mes pieds.«
Der Mann zögerte einen Moment, dann durchsägte er die dickeren Fesseln um ihre Fußknöchel, als würde er Fleisch tranchieren.
»Leve-toi. Vite!« Er hob einen Arm, als wollte er sie schlagen, riss aber nur wieder an dem Strick und zog sie näher zu sich. »Vite.« Ihre Beine waren steif, doch sie war zu verängstigt, um sich z u widersetzen. Die Haut an ihren Fußknöcheln war wund und roh und spannte bei jedem Schritt, sodass ihr der Schmerz bis in die Waden hochschoss.
Als sie ins Licht hinaustaumelte, schwankte der Boden unter ihren Füßen. Die Sonne war erbarmungslos. Sie spürte sie auf der Netzhaut brennen. Die Luft war heiß und feucht. Sie schien über dem Hof und den Gebäuden zu hocken wie ein boshafter Buddha.
Während sie sich von ihrem improvisierten Kerker entfernte, einem von mehreren leeren Tierverschlägen, wie sie jetzt sehen konnte, zwang Shelagh sich, die Augen offen zu halten, weil ihr bewusst wurde, dass das vielleicht ihre einzige Chance war herauszufinden, wohin man sie gebracht hatte. Und wer sie waren, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn da war sie sich trotz allem nicht sicher.
Es hatte schon im März angefangen. Er war charmant gewesen, hatte ihr geschmeichelt und sich fast dafür entschuldigt, sie wegen so einer Kleinigkeit zu belästigen. Er arbeitete für jemanden, der ungenannt bleiben wollte, so hatte er erklärt. Und er hatte sie nur darum gebeten, einen Anruf zu tätigen. Es ging um Informationen, mehr nicht. Er war bereit, ein hübsches Sümmchen dafür zu bezahlen. Kurz darauf änderte er die Abmachung: die Hälfte für die Informationen, den Rest bei Lieferung. Im Rückblick wusste Shelagh schon nicht mehr, wann sie die ersten Zweifel beschlichen hatten.
Der Kunde passte nicht in das normale Profil des leichtgläubigen Amateursammlers, der bereit war, überhöhte Preise zu zahlen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Zum einen hörte er sich jung an. Üblicherweise waren diese Leute so was wie mittelalterliche Schatzjäger, abergläubisch, leicht zu beeindrucken, einfältig, besessen. Er dagegen war nichts davon. Schon allein deshalb hätten bei ihr sämtliche Alarmglocken angehen müssen.
Im Nachhinein war ihr schleierhaft, dass sie sich nie gefragt hatte, wieso er bereit war, so viel Mühe auf sich zu nehmen, wenn der Ring und das Buch tatsächlich nur einen sentimentalen Wert hatten.
Moralische Bedenken wegen des Diebstahls und Verkaufs von Fundstücken hatte Shelagh seit Jahren nicht mehr. Sie hatte zur Genüge unter altmodischen Museen und elitären akademischen Institutionen zu
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