Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
und Spitzenborten, eine Karte mit altmodischen silbernen Druckknöpfen und ein Kästchen mit einer bunten Knopfsammlung. Sie wandte sich dem Eichenschreibtisch vor dem Fenster zu, von dem aus man in einen kleinen Garten hinter dem Haus blickte. Die oberen beiden Schubladen waren mit Tapete ausgeschlagen, aber völlig leer. Die dritte war verschlossen, doch der Schlüssel steckte.
    Unter Anwendung von Kraft und Rütteln mit dem Schlüssel konnte Alice die Schublade schließlich öffnen. Darin war ein Schuhkarton. Sie nahm ihn heraus und stellte ihn auf die Schreibtischplatte.
    Alles in dem Karton war säuberlich sortiert. Ein Packen Fotos war mit einer Kordel zusammengebunden. Darauf lag ein einzelner Brief. Er war in schwarzer, dünner Schrift an Mme Tanner adressiert und in Carcassonne am 16. März 2005 abgestempelt worden. Das Wort PRIORITAIRE war mit einem roten Stempel quer auf dem Umschlag aufgedruckt. Im Absender auf der Rückseite war keine Adresse angegeben, nur ein Name in derselben schrägen Schrift: Expéditeur Audric S. Baillard.
    Alice schob die Finger in den Umschlag und zog ein einzelnes Blatt aus dickem, cremefarbenem Papier heraus. Es gab kein Datum, keine Anrede, keine Erklärung, nur ein Gedicht, wiederum in derselben Handschrift.
     
    Bona nuèit, bona nuèit ...
    Braves amies, pica mièja-nuèit Cal finir velhada Ejos la flassada
     
    Eine schwache Erinnerung kräuselte die Oberfläche ihres Unbewussten, wie ein längst vergessenes Lied. Die Wörter, die in die oberste Stufe in der Höhle eingeschlagen waren. Es war dieselbe Sprache, das könnte sie schwören, und ihr Unbewusstes stellte die Verbindung her, die ihr Verstand nicht herste l len konnte.
    Alice lehnte sich gegen das Bett. Sechzehnter März, wenige Tage vor dem Tod ihrer Tante. Hatte sie den Umschlag noch selbst in den Karton gelegt, oder war das jemand anderem überlassen worden? Vielleicht Baillard?
    Alice legte das Gedicht beiseite und löste die Kordel um die Fotos.
    Es waren insgesamt zehn, alle schwarzweiß und chronologisch sortiert. Auf der Rückseite stand jeweils mit Bleistift in Großbuchstaben, wann und wo sie aufgenommen worden waren. Das erste Foto war die Porträtaufnahme eines ernsten kleinen Jungen in Schuluniform. Sein Haar war akkurat gescheitelt und flach gekämmt. Alice drehte es um. FREDER I CK WILLIAM TANNER, SEPTEMBER 1937 , stand da. Diesmal eine andere Handschrift.
    Alice' Herz schlug einen Purzelbaum. Das gleiche Foto von ihrem Dad hatte auf dem Kaminsims zu Hause gestanden, neben dem Hochzeitsfoto ihrer Eltern und einem Porträt von ihr selbst mit sechs Jahren in einem gesmokten Partykleidchen mit Puffärmeln. Sie fuhr mit den Fingern über die Konturen des Gesichts. Das Foto war ein anrührender Beweis dafür, dass Grace tatsächlich von der Existenz ihres kleinen Bruders gewusst hatte, auch wenn sie sich nie begegnet waren.
    Alice legte es beiseite und nahm das nächste zur Hand, ging sie dann nacheinander durch. Das früheste Foto, auf dem ihre Tante zu sehen war, war erstaunlich jungen Datums, aufgenommen auf einem Sommerfest im Juli 1958.
    Eine gewisse Familienähnlichkeit war unübersehbar. Wie Alice war auch Grace eine zierliche Frau mit zarten, fast elfenhaften Gesichtszügen, obwohl ihr Haar glatt und grau gesträhnt und unschmeichelhaft kurz geschnitten war. Grace blickte direkt in die Kamera, hielt dabei ihre Handtasche fest vor sich wie eine Schranke.
    Das letzte Foto war erneut eine Aufnahme von Grace, wie sie, einige Jahre älter, neben einem älteren Herrn stand. Alice zog die Stirn kraus. Er erinnerte sie an jemanden. Sie drehte das Foto ein wenig, damit das Licht anders darauf fiel.
    Die beiden standen vor einer alten Steinmauer. Ihre Haltung wirkte etwas steif, als würden sie einander nicht gut kennen. Ihrer Kleidung nach zu schließen, war es später Frühling oder Sommer. Grace trug ein kurzärmeliges Sommerkleid, das in der Taille gerafft war. Ihr Begleiter war groß und wirkte sehr schlank in seinem hellen Sommeranzug. Der Schatten seines Panamahutes verdunkelte das Gesicht, doch die fleckigen, faltigen Hände verrieten sein Alter.
    Auf der Mauer hinter ihnen war ein Stück von einem französischen Straßenschild zu erkennen. Alice blickte angestrengt auf die winzigen Buchstaben, und es gelang ihr, die Worte Rue des Trois Degrés zu entziffern. Auf der Rückseite stand in dünner Schrift, wohl von Baillard geschrieben: GT e AB, junh 1993, Chartres.
    Schon wieder Chartres. Grace Tanner

Weitere Kostenlose Bücher