Das Verlorene Labyrinth
keuchte vor Erschöpfung und Erleichterung und wartete ab, bis das Zittern in Armen und Beinen aufhörte. Ihr Verstand lief bereits wieder auf Hochtouren.
Was machst du jetzt? Die Männer würden zum Hotel gehen und dort auf sie warten. Dorthin konnte sie also nicht mehr zurück. Sie tastete in ihrer Hosentasche und merkte erleichtert, dass sie die Wagenschlüssel nicht bei der panischen Flucht verloren hatte. Ihr Rucksack lag unter dem Vordersitz im Auto.
Du musst Noubel anrufen.
Sie sah den Zettel mit Noubels Telefonnummer vor ihrem geistigen Auge — in ihrem Rucksack unter dem Autositz, zusammen mit allem anderen. Alice klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Ihre Jeans war verdreckt und an einem Knie eingerissen. Ihre einzige Chance war die, zurück zum Auto zu gehen und zu hoffen, dass die Männer ihr dort nicht auflauerten.
Alice eilte die Rue Barbacane entlang und senkte jedes Mal den Kopf, wenn ein Auto vorbeifuhr. An der Kirche nahm sie eine Abkürzung nach rechts durch eine kleine Straße, die Rue de La Gaffe hieß.
Wer hatte die Männer geschickt?
Sie ging sehr schnell und hielt sich möglichst im Schatten. Es war schwer zu sagen, wo ein Haus endete und das nächste begann. Plötzlich spürte Alice ein Prickeln im Nacken. Sie blieb stehen, blickte nach rechts auf ein hübsches Haus mit gelben Mauern und rechnete fest damit, dort jemand in der Tür stehen zu sehen, der sie beobachtete. Aber die Tür war zu und die Fensterläden geschlossen. Nach kurzem Zögern ging Alice weiter.
Ist die Fahrt nach Chartres wirklich eine gute Idee?
Aber die Bestätigung, dass sie in Gefahr war - dass sie sich das Ganze nicht bloß einbildete -, bestärkte sie nur in ihrem Entschluss. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Authié hinter allem steckte. Er glaubte, dass sie den Ring gestohlen hatte. Und er war offensichtlich fest entschlossen, ihn zurückzubekommen.
Ruf Noubel an.
Wieder schlug sie ihren eigenen Rat in den Wind. Bislang hatte der Inspektor nichts unternommen. Ein Polizist war tot, Shelagh vermisst. Da verließ sie sich doch lieber auf sich selbst.
Alice hatte die Stufen erreicht, die von der Rue Trivalle zum hinteren Rand des Parkplatzes hinaufführten. Falls ihre Verfolger ihr hier auflauerten, dann wahrscheinlich eher an der Einfahrt.
Die Stufen waren steil, und eine hohe Mauer versperrte ihr die Sicht. Von oben jedoch war die Treppe gut einzusehen. Falls sie da waren, würde Alice es erst merken, wenn es zu spät war. Lässt sich nur auf eine Weise feststellen.
Alice holte tief Luft und rannte die Stufen hoch, das Adrenalin in ihren Adern trieb die Beine zur Höchstleistung an. Oben angekommen, blieb sie stehen und sah sich um. Ein paar Busse und Pkws standen herum, aber nur wenige Menschen waren zu sehen. Der Wagen stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatte. Geduckt lief sie zwischen den Parkreihen hindurch. Ihr zitterten die Hände, als sie sich auf den Fahrersitz schob. Noch immer rechnete sie damit, dass die Männer jeden Moment vor ihr auftauchen würden. Noch hallten ihr ihre Stimmen, ihre Rufe in den Ohren. Kaum saß sie im Wagen, verriegelte sie die Türen und rammte den Schlüssel ins Zündschloss.
Ihre Augen huschten in alle Richtungen, und sie hatte die Hände so fest ums Lenkrad gelegt, dass die Handknöchel weiß wurden; trotzdem wartete sie ab, bis ein Campingwagen vom Parkplatz rollte und der Wärter die Sperrschranke hob. Sofort gab sie Gas und brauste viel zu schnell über den Asphalt auf die Ausfahrt zu. Der Wärter schrie irgendwas und sprang zur Seite, doch Alice achtete nicht auf ihn.
Sie fuhr einfach weiter.
Kapitel 52 Foix
A udric Baillard saß zusammen mit Jeanne auf einer Bank am Bahnsteig in Foix und wartete auf den Zug nach Andorra.
»In zehn Minuten«, sagte Jeanne mit Blick auf die Uhr. »Es ist noch nicht zu spät. Du könntest es dir anders überlegen und mitkommen.«
Er lächelte ob ihrer Hartnäckigkeit. »Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Sie winkte ungehalten ab. »Du hast ihrer Geschichte dreißig Jahre deines Lebens gewidmet, Audric. Alaïs , ihre Schwester, ihr Vater, ihr Mann - du hast dein Leben in ihrer Gesellschaft verbracht.« Ihre Stimme wurde weicher. »Aber was ist mit den Lebenden?«
»Ihr Leben ist mein Leben, Jeanne«, sagte er mit stiller Würde. »Worte sind unsere einzige Waffe gegen die Lügen der Geschichte. Wir müssen die Wahrheit bezeugen. Wenn wir das nicht tun, sterben unsere Lieben ein
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