Das Verlorene Labyrinth
zweites Mal.« Er hielt inne. »Ich werde keinen Frieden finden, solange ich nicht weiß, wie das Ende war.«
»Nach achthundert Jahren? Vielleicht ist die Wahrheit zu tief verborgen.« Jeanne zögerte. »Und vielleicht ist es ja auch besser so. Manche Geheimnisse bleiben besser im Verborgenen.« Baillard blickte geradeaus in die Berge. »Es tut mir Leid, dass ich Kummer in dein Leben gebracht habe, das weißt du.«
»Das habe ich nicht gemeint, Audric.«
»Aber die Wahrheit herauszufinden und niederzuschreiben«, sprach er weiter, als hätte sie nichts gesagt, »nur dafür lebe ich, Jeanne.«
»Wahrheit! Und was ist mit de njenigen, die du bekämpfst, Au dric? Was suchen diese Menschen? Die Wahrheit? Das bezweifle ich.«
»Nein«, gab er schließlich zu. »Ich glaube nicht, dass es ihnen darum geht.«
»Worum dann?«, fragte sie ungeduldig. »Ich reise ab, wie du es mir geraten hast. Es besteht also kein Grund mehr, es mir nicht zu sagen.«
Noch immer zögerte er.
Jeanne ließ nicht locker. »Sind die Noublesso Véritable und die Noublesso de los Seres bloß zwei unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Organisation?«
»Nein!« Das Wort drang schärfer aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte. »Nein.«
»Was denn dann?«
Audric seufzte. »Die Noublesso de los Seres war die Gemeinschaft der rechtmäßigen Hüter der Gralspergamente. Diese Rolle haben sie über Tausende von Jahren hinweg ausgefüllt. Bis die Pergamente schließlich getrennt wurden.« Er schwieg kurz, suchte nach den richtigen Worten. »Die Noublesso Véritable entstand dagegen erst vor einhundertfünfzig Jahren, als die Schrift der Pergamente erstmals wieder verstanden wurde. Der Name Véritable - was so viel heißen soll wie wahre oder echte Hüter - war ein bewusster Versuch, der Organisation den Anschein von Legitimation zu geben.«
»Dann gibt es die Noublesso de los Seres also nicht mehr?« Audric schüttelte den Kopf. »Nachdem die Trilogie getrennt worden war, bestand kein Grund mehr für die Existenz der Hüter.« Jeanne runzelte die Stirn. »Aber haben sie denn versucht, die verlorenen Pergamente zurückzubekommen?«
»Zunächst ja«, bestätigte er, »aber es ist ihnen nicht gelungen. Und im Laufe der Zeit wurde es immer unvernünftiger, weiter zu suchen, weil man fürchtete, das eine noch verbliebene Pergament bei der Suche nach den anderen zu gefährden. Da niemand mehr die Texte lesen konnte, ließ sich das Geheimnis nicht lösen. Nur einer ...« Baillard stockte. Er spürte Jeannes Blick auf sich. »Der einzige Mensch, der jn der Lage war, die Pergamente zu lesen, entschied sich dafür, sein Wissen nicht weiterzugeben.«
»Und was änderte sich dann?«
»Lange Zeit gar nichts. Doch dann segelte Napoleon 1798 nach Ägypten und nahm nicht nur Soldaten mit, sondern auch Wissenschaftler und Gelehrte. Sie entdeckten die Überreste der alten Kulturen, die vor Tausenden von Jahren in diesem Land geherrscht hatten. Zahllose Altertümer, Altartische, Steine, wurden nach Frankreich gebracht. Von dem Augenblick an war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die alten Sprachen - die demotische Schrift, die Keilschrift, die Hieroglyphen - enträtselt wurden. Wie du weißt, war es Jean-Fran c ois Champollion, der als Erster erkannte, dass die Hieroglyphen nicht bloß als Symbole oder Schriftzeichen zu verstehen waren, sondern als phonetische Umschrift. 1822 schaffte er es, salopp ausgedrückt, den Code zu knacken. Für die alten Ägypter kam die Gabe der Schrift direkt von den Göttern - ja, das Wort Hieroglyphen selbst bedeutet >göttliche Sprachen«
»Aber wenn die Gralspergamente in der Sprache der alten Ägypter verfasst sind ...« Sie beendete den Satz nicht. »Also, Audric, wenn ich dich richtig verstehe ...« Sie schüttelte den Kopf. »Dass es so einen Geheimbund wie die Noublesso gegeben hat, ja. Auch dass man glaubte, die Trilogie berge ein uraltes Geheimnis, wieder ja. Aber der Rest? Das ist doch unvorstellbar!« Audric lächelte. »Aber wie könnte man ein Geheimnis besser schützen, als es hinter einem anderen Rätsel zu verbergen? Sich mächtige Symbole oder die Ideen anderer anzueignen und sie aufzunehmen ist die Überlebensstrategie von Zivilisationen.« »Wie meinst du das?«
»Menschen suchen nach der Wahrheit. Und wenn sie glauben, sie gefunden zu haben, hören sie auf, weil sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dass darunter etwas noch Erstaunlicheres liegt. Die Geschichte ist voll von religiösen, rituellen,
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