Das Verlorene Labyrinth
merkte, dass sie quer auf dem Bett in einem Wust von Unterlagen und Papieren lag.
Der Stammbaum lag vor ihr, zusammen mit ihren Notizen aus der Bibliothek in Toulouse. Sie musste grinsen. Ganz wie in ihrer Studienzeit, als sie ständig am Schreibtisch eingeschlafen war. Aber sie fühlte sich nicht schlecht deswegen. Trotz des Einbruchs vom Vortag war sie heute Morgen guter Dinge. Zufrieden, vielleicht sogar glücklich.
Alice reckte sich herzhaft, dann stand sie auf, um das Fenster und die Läden zu öffnen. Der Himmel war mit hellen Lichtstreifen und flachen weißen Wolken durchsetzt. Die Hänge der Cité lagen im Schatten, und auf dem Gras unterhalb der Mauern schimmerte Morgentau. Über den kleinen und großen Türmen war der Himmel blau wie ein Ballen Seide. Zaunkönige und Lerchen sangen einander über die Dächer hinweg etwas vor. Überall waren Spuren des Unwetters zu sehen. Abfall, der gegen Geländer geweht worden war, aufgeweichte und umgekippte Kartons auf der Rückseite des Hotels, Zeitungen, die sich am Fuße der Straßenlampen auf dem Parkplatz türmten.
Alice war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, Carcassonne zu verlassen, als ob ihre Abreise etwas in Gang setzen würde. Aber sie musste etwas tun, und im Augenblick war Chartres ihre einzige Spur zu Shelagh.
Es war ein guter Tag für eine Reise.
Als sie ihre Papiere zusammenpackte, gestand sie sich ein, dass sie außerdem ganz vernünftig reagierte. Sie wollte nicht wie ein Opfer einfach nur dasitzen und darauf warten, dass der Eindringling vom Vorabend zurückkehrte.
Sie erklärte der Frau am Empfang, dass sie bis zum nächsten Tag verreisen würde, ihr Zimmer aber behalten wolle.
»Sie werden von einer Dame erwartet, Madame«, sagte die junge Frau und zeigte in die Lobby. »Ich wollte Sie gerade an- rufen.«
»Ach ja?« Alice schaute sich um. »Hat sie gesagt, was sie will?« Die Frau hinter der Rezeption schüttelte den Kopf.
»Okay. Danke.«
»Und das hier ist heute Morgen für Sie gekommen«, sagte die Frau und reichte ihr einen Brief. Alice sah auf den Poststempel. Gestern in Foix. Die Adresse in Blockschrift. Sie wollte ihn gerade öffnen, als sie von der Frau angesprochen wurde, die auf sie gewartet hatte.
»Dr. Tanner?«, fragte sie. Sie wirkte nervös.
Alice schob den Brief in die Jackentasche. Sie würde ihn später lesen. »Ja?«
»Ich habe eine Nachricht von Audric Baillard für Sie. Er bittet Sie, sich auf dem Friedhof mit ihm zu treffen.«
Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor, doch Alice wusste nicht, woher.
»Kennen wir uns?«, fragte sie.
Die Frau zögerte. »Von Daniel Delagarde«, stieß sie hastig hervor. »Notaires.«
Alice betrachtete sie genauer. Sie konnte sich nicht erinnern, sie gestern gesehen zu haben, aber die Kanzlei hatte viele Mitarbeiter.
»Monsieur Baillard erwartet Sie an der Grabstätte Giraud-Biau.«
»Aha?«, fragte Alice. »Warum ist er denn nicht selbst gekommen?«
»Ich muss jetzt gehen.«
Und schon lief die Frau davon und ließ Alice, die verblüfft hinter ihr herblickte, einfach stehen. Sie drehte sich zu der jungen Frau am Empfang um, die mit den Schultern zuckte.
Alice sah auf die Uhr. Eigentlich wollte sie möglichst früh los. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. Andererseits, zehn Minuten machten auch keinen großen Unterschied.
»A demain«, sagte sie zu der Empfangsdame, doch die hatte sich bereits wieder ihren sonstigen Tätigkeiten zugewandt.
Alice ging zu ihrem Auto, um den Rucksack loszuwerden, und eilte dann ein wenig gereizt über die Straße zum Friedhof.
Die Atmosphäre änderte sich schlagartig, als Alice durch das hohe Metalltor trat. Die frühmorgendliche Geschäftigkeit der erwachenden Cité wurde von Stille verdrängt.
Rechts von ihr war ein niedriges, weiß getünchtes Gebäude. An der Außenseite hing eine Reihe von schwarzgrünen Gießkannen an Haken. Alice spähte durchs Fenster und sah eine alte Jacke über eine Stuhllehne geworfen und eine aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch, als wäre jemand gerade erst aufgestanden.
Alice ging langsam den mittleren Weg zwischen den Gräbern hindurch und wurde plötzlich kribbelig. Sie fand die Atmosphäre bedrückend. Graue Grabsteine, mit Skulpturen oder Reliefs, weiße Porzellankameen und schwarze Granitinschriften mit den Geburts- und Todesdaten, Ruhestätten, von einheimischen Familien à perpétuité gekauft, um ihrer Geschichte Dauer zu verleihen. Fotos von jungen Verstorbenen neben den Bildern der alten. Auf
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