Das Verlorene Labyrinth
Geräusch eiliger Schritte. Rixende erschien, gefolgt von zwei parfaits. Alaïs erkannte den Älteren der beiden, einen Mann mit dunklen Gesichtszügen, dichtem Bart und sanfter Miene, dem sie einmal in Esclarmon- des Haus begegnet war. Beide trugen sie dunkelblaue Kutten und einen Strick als Gürtel mit Eisenschnallen in Form eines Fisches.
Er verneigte sich. »Dame Alaïs .« Er schaute an ihr vorbei zum Bett. »Ich nehme an, Euer Vater, Intendant Pelletier, ist es, der des Trostes bedarf.«
Sie nickte.
»Ist sein Atem noch kräftig genug zum Sprechen?«
»Er wird die Kraft dazu finden.«
Wieder war draußen auf dem Gang ein Geräusch zu hören, und gleich darauf trat Vicomte Trencavel ins Zimmer.
»Messire«, sagte sie bestürzt. »Er hat nach den parfaits verlangt ... mein Vater wünscht, getröstet zu sterben, Messire.«
Überraschung flackerte in seinen Augen, doch er ordnete an, die Tür zu schließen.
»Dennoch«, sagte er. »Ich bleibe.«
Alaïs starrte ihn einen Augenblick lang an, dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu, als der leitende parfait sie rief. »Intendant Pelletier hat starke Schmerzen, doch sein Verstand ist klar und sein Mut ungebrochen.« Alaïs nickte. »Hat er auch nichts getan, um unserem Glauben zu schaden, und ist er uns nichts schuldig?«
»Er ist ein Verteidiger aller Freunde Gottes.«
Alaïs und Raymond-Roger hielten sich im Hintergrund, als der parfait ans Bett trat und sich über den Sterbenden beugte. Bertrands Augen flackerten, als er das melhorer flüsterte, die Ehrenbezeugung.
»Gelobt Ihr, den Regeln von Gerechtigkeit und Wahrheit zu folgen und Euch Gott und der Kirche der Bons Chrétiens zu übergeben?«
Pelletier presste die Worte zwischen den Lippen hervor. »Ich gelobe es.«
Der parfait legte eine Pergamentabschrift des Neuen Testamentes auf Pelletiers Kopf. »Möge Gott dich segnen, einen guten Christen aus dir machen und dich zu einem seligen Ende führen.« Er sprach das Benedicté, dann dreimal das Adoremus. Alaïs war von der Schlichtheit der Zeremonie bewegt. Vicomte Trencavel blickte starr geradeaus. Er schien sich nur mit größter Mühe beherrschen zu können.
»Bertrand Pelletier, bist du bereit, die Gabe des Vaterunsers zu empfangen?«
Ihr Vater raunte seine Zustimmung.
Mit klarer, reiner Stimme sprach der parfait das Paternoster siebenmal hintereinander und hielt nur inne, damit Pelletier Amen sagen konnte.
»Das ist das Gebet, das Jesus Christus in diese Welt brachte und das er die Bons Homes lehrte. Von nun an wirst du nie wieder essen oder trinken, ohne zuvor dieses Gebet gesprochen zu haben, und wenn du gegen diese Pflicht verstößt, musst du erneut Buße tun.«
Pelletier versuchte zu nicken. Das hohle Pfeifen in seiner Brust war nun lauter wie der Wind in Herbstbäumen.
Der parfait begann aus dem Evangelium des Johannes zu lesen. »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.« Pelletiers Hand zuckte auf dem Laken, als der parfait weiterlas. »... Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Plötzlich riss der Sterbende die Augen auf. »Vertat«, flüsterte er. »Ja, die Wahrheit.«
Ängstlich packte Alaïs seinen Arm, doch er entglitt ihr. Das Licht war aus seinen Augen gewichen. Sie merkte, dass der parfait jetzt schneller sprach, als fürchtete er, dass ihm nicht mehr genug Zeit blieb, um das Ritual abzuschließen.
»Er muss die letzten Worte sprechen«, drängte er Alaïs . »Helft ihm.«
»Paire, Ihr müsst ...« Die Trauer raubte ihr die Stimme.
»Für jede Sünde ... die ich begangen habe ... in Wort oder Tat«, röchelte er, »bitte ich ... bitte ich Gott und die Kirche und alle hier Anwesenden ... um Vergebung.«
Mit offensichtlicher Erleichterung legte der parfait seine Hände auf Pelletiers Haupt und gab ihm den Friedenskuss. Alaïs stockte der Atem.
Ein Ausdruck des Friedens hatte das Gesicht ihres Vaters verwandelt, als die Gnade des consolament sich auf ihn senkte. Es war ein Augenblick der Transzendenz, des Begreifens. Sein Geist war jetzt bereit, diesen kranken Leib und die Erde zu verlassen, die ihn festhielt.
»Seine Seele ist bereit«, sagte der parfait.
Alaïs nickte. Sie setzte sich aufs Bett und hielt ihrem Vater die Hand. Vicomte Trencavel trat an die andere Seite. Pelletier war kaum noch bei Bewusstsein, aber er schien ihre Anwesenheit zu spüren.
» Messire?«
»Ich bin hier, Bertrand.«
»Carcassona
Weitere Kostenlose Bücher