Das Verlorene Labyrinth
drin gewesen.« »Glaubst du, das macht die Sache besser?«, sagte Shelagh sarkastisch. »Mann, jetzt hör aber auf. Du hattest so ein Gefühl. Lächerlich.«
Alice schüttelte den Kopf. »Es war noch mehr, noch stärker ...« »Und wieso hast du überhaupt da oben gegraben? Noch dazu allein? Weil du meinst, für dich gelten keine Regeln.«
»Nein«, sagte Alice. »So war das nicht. Mein Partner ist heute nicht da. Ich hab was unter dem großen Felsen gesehen, und weil heute mein letzter Tag ist, hab ich gedacht, ich streng mich noch ein bisschen mehr an.« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich wollte bloß sehen, ob es sich lohnen würde, der Sache nachzugehen.« Sie merkte zu spät, dass sie sich nur noch mehr verstrickte. »Ich hatte nicht vor ... «
»Soll das etwa heißen, du hast tatsächlich was gefunden? Du hast was gefunden und hast es nicht für nötig gehalten, Bescheid zu sagen?«
»Ich ...«
Shelagh streckte die Hand aus. »Gib's mir.«
Alice sah ihr einen Moment in die Augen, dann fischte sie das Taschentuch aus der Tasche ihrer abgeschnittenen Jeans und gab es Shelagh. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen.
Shelagh schlug die Zipfel des weißen Baumwollstoffs zurück und legte die Brosche frei. Unwillkürlich hob Alice die Hand. »Schön, nicht? Sieh mal, wie das Kupfer da am Rand glänzt.« Sie zögerte. »Ich denke, es könnte einem von den beiden Leuten in der Höhle gehört haben.«
Shelagh blickte auf. Ihre Stimmung war ein weiteres Mal umgeschlagen. Aller Zorn war jetzt verpufft.
»Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast, Alice. Absolut keine Ahnung.« Sie legte das Taschentuch wieder zusammen. »Ich bringe das runter.«
»Ich ...«
»Lass gut sein, Alice. Ich will jetzt nicht mit dir sprechen. Alles, was du sagst, macht es nur noch schlimmer.«
Was war hier eigentlich los?
Alice blieb verblüfft stehen und sah Shelagh hinterher. Der Streit war aus heiterem Himmel ausgebrochen und genauso schnell wieder verraucht. Das war selbst für Shelagh ungewöhnlich, die schon wegen Lappalien auf die Palme gehen konnte. Alice ließ sich auf den nächstbesten Stein sinken und stützte das pochende Handgelenk auf das Knie. Ihr tat alles weh, und sie war erschöpft und niedergeschlagen. Sie wusste, dass die Ausgrabung privat finanziert wurde - also nicht von irgendeiner Universität oder Institution - und daher weniger strikte Auflagen hatte als viele andere Projekte. Umso erbitterter war der Konkurrenzkampf um einen Platz im Team gewesen. Shelagh hatte in Mas d'Azil gearbeitet, wenige Kilometer nordwestlich von Foix, als sie von der Ausgrabung in den Sabarthès -Bergen erfahren hatte. Ihrer Schilderung nach hatte sie den Leiter, Dr. Brayling, mit Briefen, E-Mails und Empfehlungsschreiben förmlich bombardiert, bis er vor achtzehn Monaten schließlich klein beigab.
Schon damals hatte Alice sich gefragt, warum Shelagh so versessen darauf war, ausgerechnet bei dieser Ausgrabung mitzumachen.
Alice blickte den Berg hinunter. Shelagh war schon weit weg und kaum noch zu sehen. Ihre hohe, schlanke Gestalt verschwand hinter den Ginsterbüschen und dem Gestrüpp weiter unten am Hang. Ausgeschlossen, sie jetzt noch einzuholen, selbst wenn Alice gewollt hätte.
Sie seufzte. Ihr innerer Akku war leer. Wie immer. Alles allein machen. Ist auch besser so. Sie war zwar sehr unabhängig und verließ sich so gut wie nie auf andere, aber im Augenblick war sie sich nicht sicher, ob sie es noch zurück zum Camp schaffen würde. Die Sonne brannte erbarmungslos, und sie fühlte sich zu schwach auf den Beinen. Sie blickte auf die Wunde am Arm. Sie blutete wieder, stärker als vorher.
Alice ließ den Blick über die ausgedorrte Sommerlandschaft der Sabarthès -Berge schweifen, noch immer zeitlos und friedlich. Zunächst tat ihr der Anblick wohl. Doch dann spürte sie plötzlich ein anderes Gefühl, ein Kribbeln unten im Rücken. Eine Vorahnung, ein Gefühl der Erwartung. Wiedererkennen.
Hier endet alles.
Alice hielt den Atem an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Es endet hier, wo es begann.
Unversehens hallten ihr geflüsterte, unzusammenhängende Klänge durch den Kopf, wie ein Echo der Zeit. Und die Worte, die in der oberen Steinstufe in der Höhle eingemeißelt waren, fielen ihr wieder ein. Pas a pas. Sie kreisten ihr unentwegt durch den Kopf, wie ein fast vergessenes Kinderlied.
Das ist unmöglich. Sei nicht albern.
Verunsichert stützte Alice die Hände auf die Knie und zwang sich aufzustehen. Sie
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