Das Verlorene Labyrinth
Knöcheln spannte.
»Alles in Ordnung. Einen kleinen Moment noch.«
»Wie kommst du überhaupt dazu, hier allein reinzugehen?« »Ich war ...« Alice verstummte, wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war typisch für sie, sich nicht an Regeln zu halten und dann Ärger zu kriegen. »Da ist was, das müsst ihr euch ansehen. Da unten. Auf der unteren Ebene.«
Shelagh schwenkte ihre Taschenlampe in die Richtung, in die Alice schaute. Schatten huschten die Wände hinauf und über die Decke der Höhle.
»Nein, nicht da«, sagte Alice. »Tiefer.«
Shelagh senkte den Lichtstrahl.
»Vor dem Altar.«
»Altar?«
Das starke weiße Licht durchschnitt das Tiefschwarz der Kammer wie ein Suchscheinwerfer.
Für den Bruchteil einer Sekunde lag der Schatten des Altars auf der hinteren Felswand, als wäre der griechische Buchstabe pi auf das gemeißelte Labyrinth gestempelt worden. Dann bewegte Shelagh die Hand, das Bild verschwand, und die Taschenlampe erfasste das Grab. Die blassen Knochen leuchteten in der Dunkelheit auf.
Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre. Shelagh schnappte nach Luft. Wie ein Roboter machte sie erst einen, dann zwei, dann drei Schritte nach unten. Sie schien vergessen zu haben, dass Alice existierte.
Stephen wollte ihr folgen.
»Nein«, zischte sie. »Bleib da.«
»Ich wollte nur ...«
»Weißt du, was, hol Dr. Brayling. Sag ihm, was wir gefunden haben. Sofort!«, schrie sie, als er sich nicht rührte. Stephen schob Alice seine Taschenlampe in die Hand und verschwand wortlos in dem Tunnel. Sie hörte seine Stiefel auf dem Geröll knirschen, das Geräusch wurde leiser und leiser, bis die Dunkelheit es gänzlich verschluckte.
»Du hättest ihn nicht gleich anschreien müssen«, wollte Alice sagen. Shelagh fiel ihr ins Wort.
»Hast du irgendwas angefasst?«
»Eigentlich nicht, nur ...«
»Nur was?« Schon wieder, die gleiche Aggression.
»In dem Grab waren ein paar Dinge«, erklärte Alice. »Ich kann sie dir zeigen.«
»Nein!«, schrie Shelagh. »Nein«, etwas ruhiger. »Hier unten soll keiner rumtrampeln.«
Alice hätte sie am liebsten darauf hingewiesen, dass es dafür schon zu spät war, bremste sich aber. Sie hatte ohnehin keine Lust, wieder in die Nähe der Skelette zu gehen. Die leeren Augenhöhlen, die eingefallenen Knochen hatten sich ihr deutlich eingeprägt.
Shelagh stand vor dem flachen Grab. Die Art, wie sie den Schein der Taschenlampe über die Skelette gleiten ließ, auf und ab, als wollte sie sie untersuchen, hatte etwas Provozierendes an sich. Es war fast schon respektlos. Das Licht fiel auf die matte Messerklinge, als Shelagh mit dem Rücken zu Alice neben den Knochengerippen in die Hocke ging.
»Du hast also nichts angefasst?«, sagte sie jäh und blickte wütend über die Schulter. »Und wieso liegt dann deine Pinzette hier?«
Alice wurde rot. »Ich war vorhin noch nicht fertig, als du mich unterbrochen hast. Ich wollte sagen, dass ich einen Ring aufgehoben habe - und zwar mit der Pinzette, bevor du fragst. Als ich euch beide in dem Gang gehört habe, ist er mir aus der Hand gefallen.«
»Einen Ring?«, wiederholte Shelagh.
»Vielleicht ist er irgendwo druntergerollt?«
»Tja, also ich sehe ihn nirgends«, sagte Shelagh und stand plötzlich auf. Sie kam zu Alice zurück. »Komm jetzt mit raus. Wir müssen dich verarzten.«
Alice schaute sie verwundert an. Das Gesicht einer Fremden, nicht das einer guten Freundin, starrte sie an. Zornig, hart, strafend.
»Aber willst du denn nicht ...«
»Menschenskind, Alice«, sagte Shelagh und packte ihren Arm. »Hast du nicht schon genug angerichtet? Los, raus jetzt!«
Nach der samtenen Dunkelheit in der Höhle war der Tag blendend hell, als sie aus dem Schatten des Felsens hervortraten. Es war, als würde die Sonne in Alice' Gesicht explodieren, wie ein Feuerwerk an einem schwarzen Novemberhimmel.
Sie schirmte die Augen mit den Händen ab. Sie war völlig desorientiert, unfähig, ihren Platz in Zeit und Raum zu bestimmen. Es war, als wäre die Welt stehen geblieben, während sie in der Kammer gewesen war. Die gleiche vertraute Landschaft breitete sich vor ihr aus, doch sie hatte sich in etwas anderes verwandelt. Oder sehe ich sie jetzt nur mit anderen Augen?
Die schimmernden Gipfel der Pyrenäen in der Ferne hatten ihre Klarheit verloren. Die Bäume, der Himmel, sogar der Berg selbst, alles war weniger greifbar, weniger wirklich. Wenn sie irgendwas berühren würde, so schien es Alice, würde es umfallen, wie
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