Das Verlorene Labyrinth
Räumen ihrer Erinnerung war das Wissen, das sie brauchte. Geschichts- und Lateinunterricht in der Schule, Dokumentarfilme im Fernsehen, die sie sich, gemütlich auf dem Sofa zusammengerollt, mit ihren Eltern angesehen hatte. In ihrem Zimmer ein kleines Holzregal mit ihrem Lieblingsbuch auf dem untersten Brett. Eine illustrierte Enzyklopädie alter Mythen, Hochglanzpapier, mit Eselsohren an den Seiten, die sie besonders oft las.
Da war ein Bild von einem Labyrinth.
Vor ihrem geistigen Auge schlug Alice die richtige Seite auf. Aber es war anders. Sie legte die Bilder nebeneinander, wie bei einem Fehlersuchspiel in der Zeitung.
Sie griff nach dem Stift und versuchte es erneut. Entschlossen, sich nicht so leicht entmutigen zu lassen, zeichnete sie einen zweiten Kreis in den ersten und versuchte, die beiden zu verbinden. Vergeblich. Auch ihr nächster Versuch kam der Sache nicht näher, der danach genauso wenig. Ihr wurde klar, dass es nicht allein darauf ankam, wie viele Ringe sich auf das Zentrum zubewegten, sondern dass mit ihrem Entwurf irgendwas grundsätzlich nicht stimmte.
Alice versuchte es weiter, doch ihre anfängliche Begeisterung machte dumpfer Frustration Platz. Die zusammengeknüllten Papierknäuel zu ihren Füßen wurden mehr.
»Madame Tanner?«
Alice zuckte zusammen, und der Stift rutschte ihr über das Blatt. »Docteur«, berichtigte sie automatisch und stand auf.
»Je vous demande pardon. Docteur. Je m'appelle Noubel. Police Judiciare, Département de l’Ariège.«
Noubel hielt ihr seinen Dienstausweis hin. Alice tat so, als studiere sie ihn, und stopfte derweil alles zurück in ihren Rucksack. Sie wollte nicht, dass der Inspektor die misslungenen Zeichnungen sah.
»Vous préférez parler en votre langue?«
»Das wäre wohl sinnvoll, ja, danke.«
Inspektor Noubel war in Begleitung eines uniformierten Polizisten mit wachen, flinken Augen. Er sah aus, als hätte er gerade erst die Schule abgeschlossen. Er wurde nicht vorgestellt. Noubel quetschte sich in einen der wackeligen Campingsessel. Er passte mit Mühe hinein. Seine Oberschenkel quollen rechts und links über die Segeltuchsitzfläche.
»Et alors, Madame. Ihren vollen Namen bitte.«
»Alice Helena Tanner.«
»Geboren?«
»Siebter Januar 1976.«
»Verheiratet?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte sie bissig.
»Nur zur Information, Dr. Tanner«, sagte er nachsichtig.
»Nein«, sagte sie. »Nicht verheiratet.«
»Wo wohnen Sie?«
Alice nannte ihm die Anschrift des Hotels in Foix, in dem sie abgestiegen war, und ihre Anschrift zu Hause. Die unbekannten englischen Namen musste sie ihm buchstabieren.
»Eine ganz schöne Strecke, jeden Tag von Foix bis hierher.«
»Im Ausgrabungshaus war kein Zimmer mehr frei, deshalb ...« »Bien. Sie sind eine freiwillige Mitarbeiterin, wie ich höre. Ist das richtig?«
»Ja. Shelagh - Dr. O'Donnell - ist eine meiner engsten Freundinnen. Wir waren zusammen auf der Universität, bis ...« Beantworte einfach bloß die Frage. Er muss nicht deine Lebensgeschichte hören.
»Ich bin hier bloß auf Stippvisite. Dr. O'Donnell kennt die Gegend hier recht gut. Und da ich zufällig in Carcassonne zu tun habe, hat Shelagh vorgeschlagen, ich soll vorher einen Abstecher hierher machen, damit wir uns ein paar Tage sehen können. Da hab ich einfach mitgeholfen.«
Noubel kritzelte auf seinen Notizblock. »Sie sind keine Archäologin?«
Alice schüttelte den Kopf. »Aber es ist anscheinend üblich, für die einfacheren Arbeiten Freiwillige einzusetzen, interessierte Amateure, Archäologiestudenten.«
»Wie viele Freiwillige arbeiten denn hier außer Ihnen?«
Sie wurde rot, als hätte er sie bei einer Lüge ertappt. »Keiner, zumindest im Augenblick. Die anderen sind alles Archäologen oder Studenten.«
Noubel musterte sie. »Und Sie sind hier bis?«
»Heute ist mein letzter Tag. Das war so vorgesehen ... auch bevor das passiert ist.«
»Und in Carcassonne?«
»Mittwochmorgen habe ich dort einen Termin, und dann bleiben mir noch ein paar Tage, um mich ein bisschen umzuschauen. Sonntag fliege ich zurück nach England.« »Carcassonne ist eine schöne Stadt«, sagte Noubel.
»Ich war noch nie dort.«
Noubel seufzte und wischte sich zum wiederholten Mal mit dem Taschentuch über die rote Stirn. »Und was für ein Termin ist das?«
»Bei einem Anwalt. Eine Verwandte, die hier in Frankreich gelebt hat, hat mir etwas in ihrem Testament hinterlassen.« Sie zögerte, wollte nicht ins Detail gehen. »Genaueres
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