Das Verlorene Labyrinth
Feindseligkeit.
Sie schaute dem Leichenwagen mit seiner Eskorte nach, wie er die Serpentinenstraße ins Tal hinunterfuhr, immer kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich nur noch ein winziger Fleck war. Im Camp um sie herum war es still geworden. Sie wusste, dass sie nicht noch mehr Zeit vertrödeln konnte, und wollte gerade mit Packen anfangen, als sie sah, dass Authié noch nicht abgefahren war. Sie schlich sich ein wenig näher heran und beobachtete interessiert, wie er sein Jackett sorgfältig auf den Rücksitz seines teuer aussehenden silbernen Wagens legte. Er knallte die Tür zu und holte dann ein Handy aus der Tasche. Alice hörte, wie seine Finger auf dem Wagendach trommelten, während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam.
Als er schließlich sprach, war die Botschaft kurz und prägnant. »Ce n'est plus lä.« Mehr nicht. Er ist weg.
Kapitel 14
Chartres
D ie herrliche gotische Kathedrale Notre Dame de Chartres ragte hoch über dem Mosaik aus rötlichen Dächern und Giebeln, aus Fach werk- und Kalksteinhäusern auf, das den historischen Stadtkern bildete. Unterhalb des engen Labyrinths aus schmalen, verwinkelten Sträßchen, im Schatten der Häuser, lag der Fluss Eure noch immer im getüpfelten Licht der Spätnachmittagssonne.
Touristen drängelten sich am Westportal der Kathedrale. Männer schwangen ihre Videokameras wie Waffen, um das leuchtende Farbkaleidoskop, das sich durch die drei Bogenfenster über der Königspforte ergoss, zu filmen statt es zu genießen.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein konnten die neun Eingänge der Kathedrale bei Gefahr hermetisch verschlossen werden. Die entsprechenden Tore waren längst verschwunden, doch die Geisteshaltung gab es noch immer. Chartres war nach wie vor eine Stadt, die sich in einen alten und neuen Teil spaltete. Die elegantesten Straßen lagen nördlich des Klosters, wo einst der Bischofspalast stand. Die hellen Steingebäude blickten gebieterisch zu der Kathedrale hin, eingehüllt in eine Aura aus jahrhundertealtem katholischen Einfluss und Machtanspruch.
Das Haus der Familie de l'Orad ore beherrschte die Rue du Che val Blanc. Es hatte die Revolution und die Okkupation überstanden und legte jetzt beredtes Zeugnis von altem Reichtum ab. Der Türklopfer und der Briefkasten aus Messing glänzten, und die Pflanzen in den großen Kübeln rechts und links der Treppe, die zur breiten Haustür hinaufführte, waren perfekt gestutzt.
Durch die Haustür gelangte man in eine imposante Eingangshalle. Der Boden bestand aus dunklem, poliertem Holz, und eine schwere Glasvase mit stets frisch geschnittenen weißen Lilien darin stand auf einem ovalen Tisch in der Mitte. Vitrinen an den Wänden - mit einer diskreten Alarmanlage gesichert - enthielten eine unschätzbar wertvolle Sammlung ägyptischer Kunst, die nach Napoleons triumphaler Rückkehr von seinen Nordafrikafeldzügen Anfang des 19. Jahrhunderts von der Familie de l'Oradore zusammengetragen worden war. Es handelte sich um eine der größten ägyptischen Sammlungen in privater Hand. Das derzeitige Familienoberhaupt, Marie-Cecile de l'Oradore, handelte mit Antiquitäten aus allen Epochen, obwohl sie die gleiche Vorliebe für die mittelalterliche Vergangenheit hegte, wie ihr verstorbener Großvater das getan hatte. Zwei prächtige französische Wandteppiche hingen an der holzgetäfelten Wand gegenüber der Haustür, und beide hatte sie erworben, seit sie vor fünf Jahren ihr Erbe angetreten hatte. Die kostbarsten Stücke der Familie - Gemälde, Juwelen, Handschriften - waren im Safe untergebracht.
Im großen Schlafzimmer im ersten Stock des Hauses, mit Blick auf die Rue du Cheval Blanc, lag Will Franklin, Marie-Ceciles aktueller Liebhaber, auf dem Rücken im Himmelbett und hatte das Laken bis zur Taille hochgezogen.
Seine gebräunten Arme waren hinter dem Kopf verschränkt, und das hellbraune Haar, das von den Sommerferien, die er als Kind auf Martha's Vineyard verbracht hatte, blond gesträhnt war, umrahmte ein sympathisches Gesicht mit Klein-Jungen- Lächeln.
Marie-Cecile selbst saß in einem kunstvoll verzierten Louis- XIV.-Sessel neben dem Kamin, die langen, eleganten Beine übereinander geschlagen. Der elfenbeinfarbene Schimmer ihres Seidenträgerhemdes hob sich glänzend von dem dunkelblauen Samtpolster ab.
Sie hatte das typische Profil der Familie de l'Oradore, eine blasse, adlerartige Schönheit, obwohl ihre Lippen sinnlich und voll waren und die grünen Katzenaugen von
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