Das Verlorene Labyrinth
... «
Genervt stand Will auf und stieg in seine Jeans.
»Treffen wir uns zum Abendessen?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich habe einen Termin. Geschäftlich, schon vergessen?« Sie zuckte die Achseln. »Später, oui?«
»Wie spät ist später? Zehn Uhr? Mitternacht?«
Sie kam zu ihm und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Es tut mir Leid.«
Will wollte sich abwenden, aber sie ließ ihn nicht. »Es ist immer das Gleiche mit dir. Ich weiß nie, was als Nächstes passiert.«
Sie schmiegte sich an ihn, sodass er ihre Brüste durch die dünne Seide spüren konnte. Trotz seiner schlechten Laune merkte er, dass sein Körper reagierte.
»Es ist rein geschäftlich«, raunte sie. »Kein Grund zur Eifersucht.« »Ich bin nicht eifersüchtig.« Er wusste inzwischen nicht mehr, wie oft sie diese Unterhaltung schon geführt hatten. »Vielmehr ...«
»Ce soir«, sagte sie und ließ ihn los. »Jetzt muss ich mich fertig machen.«
Ehe er noch etwas sagen konnte, war sie schon ins Bad verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Als Marie-Cecile vom Duschen kam, sah sie erleichtert, dass Will gegangen war. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn er noch immer auf dem Bett gelegen hätte, mit diesem Klein- Jungen-Ausdruck im Gesicht.
Allmählich gingen ihr seine Ansprüche auf die Nerven. Es kam immer häufiger vor, dass er mehr von ihrer Zeit und Aufmerksamkeit wollte, als sie zu geben bereit war. Er schien ein falsches Bild von ihrer Beziehung zu haben. Sie würde das klären müssen.
Marie-Cecile verdrängte Will aus ihren Gedanken. Sie sah sich um. Ihr Dienstmädchen war hier gewesen und hatte das Zimmer aufgeräumt. Ihre Sachen waren auf dem Bett bereitgelegt. Ihre goldenen, handgemachten Schuhe standen auf dem Boden daneben.
Sie nahm sich eine weitere Gauloise aus ihrem Etui. Sie rauchte zu viel, aber heute Abend war sie nervös. Sie klopfte das Filterende auf den Deckel, bevor sie die Zigarette anzündete. Noch so eine Eigenart, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte, wie so vieles andere.
Marie-Cecile ging zum Spiegel hinüber und ließ den weißen Seidenbademantel von ihren Schultern gleiten. Er fiel ihr weich um die Füße. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte sich kritisch im Spiegel. Der lange schlanke Körper, unmodisch blass; die festen Brüste, die makellose Haut. Sie strich mit einer Hand über die dunklen Brustwarzen, glitt dann tiefer, zeichnete die Silhouette der Hüftknochen nach, den flachen Bauch. Vielleicht ein paar neue Fältchen um Augen und Mund, aber ansonsten hatte die Zeit bei ihr kaum Spuren hinterlassen.
Die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims begann zu schlagen und erinnerte sie daran, dass sie mit ihren Vorbereitungen beginnen sollte. Sie nahm das bodenlange, durchscheinende Untergewand vom Bügel. Es war für sie maßgefertigt worden, war hinten hochgeschnitten und hatte vorn einen spitzen V-Ausschnitt. Marie-Cecile zog die Träger, schmale Goldbänder, über die knochigen Schultern und setzte sich dann an den Frisiertisch. Sie kämmte ihr Haar, zwirbelte die Locken um die Finger, bis es tiefschwarz glänzte wie ein polierter Stein. Sie liebte diesen Augenblick der Verwandlung, wenn sie aufhörte, sie selbst zu sein, und zur Navigataire wurde. Dieser Vorgang verband sie durch die Zeiten hinweg mit allen, die vor ihr dieselbe Rolle ausgefüllt hatten.
Marie-Cecile lächelte. Nur ihr Großvater würde verstehen, wie sie sich jetzt fühlte. Euphorisch, lebendig, unbesiegbar. Nicht heute, aber beim nächsten Mal würde sie diese Vorbereitungen an dem Ort treffen, wo ihre Vorfahren einst gestanden hatten. Er nicht. Es schmerzte sie, wie nah die Höhle der Stelle war, an der ihr Großvater vor fünfzig Jahren Ausgrabungen durchgeführt hatte. Er hatte doch Recht gehabt. Nur ein paar Kilometer weiter östlich, und nicht sie, sondern er wäre es gewesen, der den Lauf der Geschichte hätte verändern können.
Bei seinem Tod vor fünf Jahren hatte sie das Familienunternehmen der de l'Oradores geerbt. Auf diese Rolle hatte er sie vorbereitet, so weit sie zurückdenken konnte. Ihr Vater, sein einziger Sohn, war eine Enttäuschung für ihn gewesen. Das hatte Marie- Cecile schon in sehr jungen Jahren begriffen. Als sie sechs war, nahm ihr Großvater ihre Erziehung in die Hand - gesellschaftlich, akademisch und weltanschaulich. Er begeisterte sich für die schönen Dinge des Lebens und hatte einen außergewöhnlich scharfen Blick für Farben und Kunst. Möbel, Wandteppiche,
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