Das Verlorene Labyrinth
Ich kann ihn ja erst einmal behalten. Sie schob ihn in die Tasche, warf den Umschlag in den vor Eispapier überquellenden Mülleimer und ging dann verwirrt wieder hinein. Den Mann, der aus dem Eingang zu dem Café gegenüber trat, sah sie nicht. Als er in den Mülleimer griff, um den Umschlag herauszuholen, war sie schon wieder in ihrem Zimmer.
Das Adrenalin rauschte ihm durch die Adern, als Yves Biau endlich aufhörte zu rennen und erschöpft stehen blieb. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. Hoch über ihm ragte die Burg von Foix über der Stadt auf, wie schon seit über tausend Jahren. Sie war ein Symbol für die Unabhängigkeit der Region, die einzige bedeutende Festung, die während des Kreuzzugs gegen das Languedoc nie eingenommen wurde. Ein Zufluchtsort für die Katharer und Freiheitskämpfer, die aus ihren Städten und Dörfern vertrieben worden waren.
Biau wusste, dass er verfolgt wurde. Sie - wer immer sie waren - hatten gar nicht erst versucht, unbemerkt zu bleiben. Seine Hand glitt zu der Pistole unter seinem Jackett. Wenigstens hatte er getan, worum Shelagh ihn gebeten hatte. Wenn er es jetzt über die Grenze nach Andorra schaffte, ehe sie merkten, dass er weg war, würde ihm vielleicht nichts passieren. Biau hatte eingesehen, dass es zu spät war, die Ereignisse aufzuhalten, die er selbst mit in Gang gesetzt hatte. Er hatte alles getan, was sie ihm gesagt hatten, aber sie kam immer wieder. Was auch immer er tat, es würde nie genug sein.
Das Päckchen war mit der letzten Post an seine Großmutter abgegangen. Sie würde wissen, was damit zu tun war. Es war das Einzige, was ihm einfiel, um wieder gutzumachen, was er getan hatte.
Biau blickte die Straße hinauf und hinunter. Es war niemand zu sehen.
Er ging los, näherte sich seiner Wohnung auf einem umständlichen Umweg. Für den Fall, dass sie dort bereits auf ihn warteten. Denn wenn er aus dieser Richtung kam, sah er sie vielleicht, bevor sie ihn entdeckten.
Als er über den überdachten Markt ging, registrierte sein Unterbewusstsein den silberfarbenen Mercedes auf der Place Saint- Volusien, aber er achtete nicht weiter darauf. Er hörte nicht das leise Hüsteln des Motors im Leerlauf, hörte nicht, wie ein Gang eingelegt wurde und der Wagen sich allmählich in Bewegung setzte, leise über das Kopfsteinpflaster der mittelalterlichen Altstadt rollte.
Als Biau vom Trottoir trat, um die Straße zu überqueren, beschleunigte der Wagen jäh, schoss nach vorn wie ein Flugzeug auf der Startbahn. Biau fuhr herum, das Gesicht vor Schreck erstarrt. Ein dumpfer Aufprall, und seine Beine wurden unter ihm weggerissen, als sein plötzlich schwereloser Körper gegen die Windschutzscheibe schlug und dann darüber hinwegflog. Für den Bruchteil einer Sekunde schien Biau zu schweben, ehe er mit voller Wucht gegen einen der gusseisernen Pfosten krachte, die das Schrägdach des Marktes stützten.
Er hing dort in der Luft, wie ein Kind in einer dieser Riesenzentrifugen auf Kirmesplätzen. Dann verlangte die Schwerkraft ihr Recht, und er sackte zu Boden, hinterließ eine Blutspur an dem schwarzen Metallpfeiler.
Der Mercedes hielt nicht an.
Das Geräusch trieb die Menschen in den Bars hinaus auf die Straße. Ein paar Frauen schauten aus den Fenstern, die auf den Platz gingen. Der Besitzer des Café »PMU« sah nur einmal kurz hin und lief sogleich wieder hinein, um die Polizei anzurufen. Eine Frau fing an zu schreien und wurde rasch beruhigt, während sich eine Menschentraube um den Körper versammelte.
Zuerst schenkte Alice dem Geräusch keine Beachtung. Doch das lauter werdende Sirenengeheul lockte auch sie schließlich ans Fenster.
Das hat nichts mit dir zu tun.
Es bestand kein Grund, sich einzumischen. Und doch, ohne selbst recht zu wissen, warum, verließ Alice das Hotel und ging Richtung Marktplatz.
Ein Polizeiauto mit lautlos rotierendem Blaulicht sperrte die kleine Straße ab, die auf eine Ecke des Platzes stieß. Direkt auf der anderen Seite hatten Menschen einen Halbkreis um irgendetwas oder irgendjemanden auf dem Boden gebildet.
»Man ist doch nirgendwo mehr sicher«, sagte eine Amerikanerin gerade halblaut zu ihrem Mann, »nicht mal in Europa ...« Alice' böse Vorahnung wurde stärker, je näher sie kam. Der Gedanke, was sie dort vielleicht erwartete, war fast unerträglich, und doch konnte sie nicht stehen bleiben. Ein zweiter Polizeiwagen kam aus einer Seitenstraße und hielt mit quietschenden Reifen
Weitere Kostenlose Bücher