Das Verlorene Labyrinth
Alaïs, dass er Recht hatte. Zurzeit war die Missstimmung zwischen ihrem Mann und ihrem Vater schlimmer denn je. Alaïs presste die Lippen aufeinander, wollte sich nicht verplappern.
»Aber sie sind ein so großes Risiko eingegangen«, kam sie wieder auf den Überfall zu sprechen. »Mich mitten im Chateau Comtal anzugreifen war schon verwegen genug. Aber mich dann auch noch gefangen zu nehmen ... Wie konnten sie hoffen, damit durchzukommen?«
Sie hielt inne, als ihr klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte. »Jeder hier hatte alle Hände voll zu tun, Herrin. Das Ausgangsverbot war aufgehoben worden. Deshalb war nur das Westtor geschlossen, das Osttor aber die ganze Nacht auf. Es wäre für zwei Männer ein Leichtes gewesen, Euch hinauszuschaffen, wenn sie Euch in die Mitte genommen hatten und Euer Gesicht, Eure Kleidung verborgen gewesen war. Es gab viele Damen ... Frauen, ich meine, welche von der Sorte ...«
Alaïs musste schmunzeln. »Danke, François. Ich verstehe, was du sagen willst.«
Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Sie musste nach- denken, entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte. Sie war verwirrter denn je. Und weil sie nicht erklären konnte, was da passiert war und warum, wuchs ihre Angst noch mehr. Es ist schwer, sich gegen einen gesichtslosen Feind zu schützen.
»Es wäre vielleicht ganz gut herumzuerzählen, dass ich mich nicht an den Überfall erinnern kann, François«, sagte sie nach einer Weile. »Dann haben meine Angreifer, falls sie noch im Chateau sind, keinen Grund, sich bedroht zu fühlen.«
Bei dem Gedanken, gleich wieder über den Hof zu müssen, wurde ihr kalt ums Herz. Außerdem wollte sie nicht unter den Augen von Orianes Pflegerin schlafen. Bestimmt sollte die Frau sie ausspionieren und Oriane Bericht erstatten.
»Den Rest der Nacht werde ich hier verbringen«, stellte sie fest. Zu ihrem Erstaunen blickte François entsetzt. »Aber, Herrin, es ist nicht schicklich für Euch ... «
»Es tut mir Leid, dich aus deinem Bett zu vertreiben«, sagte sie und schwächte ihren Befehl mit einem Lächeln ab, »aber meine Zimmergenossin behagt mir nicht.« Eine ausdruckslose, verschlossene Miene senkte sich auf sein Gesicht. »Aber ich wäre dir dankbar, wenn du in der Nähe bliebest, für den Fall, dass ich dich noch brauche, François.«
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Wie Ihr wünscht, Herrin.« Alaïs starrte ihn einen Moment lang an, dann befand sie, dass sie zu viel in sein Verhalten hineindeutete. Sie bat ihn, die Lampe anzuzünden, und entließ ihn dann.
Sobald François gegangen war, rollte Alaïs sich mitten im Bett ihres Vaters zusammen. Jetzt, wo sie wieder allein war, kehrte die Traurigkeit über Guilhems Abwesenheit wie ein dumpfer
Schmerz zurück. Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, seine Augen, die Kontur seines Kinns, doch die Züge waren verschwommen und wollten einfach nicht klar werden. Alaïs wusste, dass sie aus Zorn nicht imstande war, sein Bild in ihrem Kopf zu finden. Immer wieder rief sie sich in Erinnerung, dass Guilhem doch nur seinen Pflichten als chevalier nachgekommen war. Er hatte nicht falsch oder unaufrichtig gehandelt. Im Gegenteil, er hatte sich völlig richtig verhalten. Am Vorabend einer so wichtigen Mission war er seinem Lehnsherrn und seinen Mitstreitern verpflichtet, nicht seiner Gemahlin. Doch sooft sie sich das auch sagte, die Stimmen in ihrem Kopf gaben keine Ruhe. Ihr Verstand hatte keinen Einfluss auf das, was sie fühlte. Dass sie von Guilhem, als sie ihn dringend gebraucht hatte, im Stich gelassen worden war. So ungerecht es auch war, sie gab Guilhem die Schuld.
Wenn ihre Abwesenheit noch im Morgengrauen entdeckt worden wäre, dann hätten die Männer vielleicht gefasst werden können.
Und mein Vater hätte bei seinem Aufbruch nicht schlecht von mir gedacht.
Kapitel 20
Aniane
A uf einem verlassenen Bauernhof außerhalb von Aniane, in der flachen, fruchtbaren Landschaft westlich von Montpellier, kauerten ein älterer katharischer parfait und seine acht credentes, Gläubige, in der Ecke einer Scheune hinter einem Haufen alten Zuggeschirrs für Ochsen und Maultiere.
Einer der Männer hatte eine starke Verletzung. Um die weißen zersplitterten Knochen, die einmal sein Gesicht gewesen waren, hingen graue und rosa Fleischlappen. Sein Auge war durch die Wucht des Tritts, der seine Wange zerschmettert hatte, herausgerissen worden. Blut gerann um das gähnende Loch herum. Seine Freunde hatten sich
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