Das Verlorene Labyrinth
Jemand schnappte nach Luft, als die Leiche des Mädchens vor ihnen auf den Boden geworfen wurde.
Der Hauptmann ging auf das Feuer zu. Er langweilte sich jetzt, brannte darauf weiterzureiten. Das Töten von Häretikern war nicht der Grund, warum er das Kreuz genommen hatte. Dieses brutale Zwischenspiel war ein Geschenk für seine Männer. Sie mussten beschäftigt werden, damit sie nicht einrosteten oder aufeinander losgingen.
Am Nachthimmel standen weiße Sterne um einen vollen Mond. Ihm wurde klar, dass es schon nach Mitternacht sein musste, vielleicht noch später. Er hatte schon längst wieder zurück sein wollen, für den Fall, dass die Nachricht kam.
»Sollen wir sie dem Feuer übergeben, mein Herr?«
Mit einer einzigen unerwarteten Bewegung zückte er sein Schwert und schlug der Frau, die ihm am nächsten war, den Kopf ab. Blut pumpte aus einer Schlagader in ihrem Hals, bespritzte seine Beine und Füße. Der Kopf fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Er trat gegen ihren noch zuckenden Leib, der nach vorn in den Schmutz kippte.
»Tötet die übrigen häretischen Weiber, dann verbrennt die Körper und steckt die Scheune an. Wir haben genug Zeit verloren.«
Kapitel 21
Carcassona
Alaïs erwachte, als das Morgengrauen ins Zimmer schlich. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, wieso sie im Bett ihres Vaters lag. Sie setzte sich auf und reckte den Schlaf aus den Gliedern, wartete, bis die Erinnerung an den Vortag lebhaft und heftig zurückkam.
Irgendwann während der langen Stunden zwischen Mitternacht und Tagesanbruch war sie zu einer Entscheidung gelangt. Trotz der unruhigen Nacht war ihr Verstand kühl und klar wie ein Bergbach. Sie konnte nicht tatenlos dasitzen und auf die Rückkehr ihres Vaters warten. Sie konnte nicht beurteilen, was für Folgen die tagelange Verzögerung haben könnte. Als er von seiner heiligen Pflicht gegenüber der Noublesso de los Seres und dem Geheimnis, das sie hüteten, gesprochen hatte, war ihr deutlich geworden, dass seine Ehre und sein Stolz von seiner Fähigkeit abhingen, seinen Schwur zu erfüllen. Ihre Pflicht war es jetzt, ihn zu suchen, ihm zu erzählen, was alles geschehen war, und das Ganze wieder in seine Hände zu legen.
Handeln ist in jedem Fall besser als Nichtstun.
Alaïs ging zum Fenster hinüber und öffnete die Läden, um die Morgenluft einzulassen. In der Ferne schimmerte die Montagne Noire lila im heller werdenden Licht, geduldig und zeitlos. Der Anblick der Berge bestärkte sie in ihrem Entschluss. Die Welt rief sie zu sich.
Als Frau allein unterwegs nahm sie ein Risiko auf sich. Waghalsig würde ihr Vater es nennen. Aber sie war eine vorzügliche Reiterin, schnell und instinktiv handelnd. Sie war davon über-
zeugt, dass sie jeder Bande von routiers oder Wegelagerern davonreiten könnte. Außerdem hatte es ihres Wissens auf dem Gebiet von Vicomte Trencavel keine Überfälle auf Reisende gegeben.
Alaïs befühlte die Beule an ihrem Hinterkopf, der Beweis, dass jemand ihr etwas antun wollte. Wenn sie schon sterben musste, dann doch lieber mit dem Schwert in der Hand. Sie wollte nicht einfach abwarten, bis ihre Feinde erneut zuschlugen.
Alaïs nahm die kalte Lampe vom Tisch und erblickte ihr Spiegelbild in dem schwarz gestreiften Glas. Sie war blass, ihre Haut hatte die Farbe von Buttermilch, und ihre Augen glänzten vor Erschöpfung. Aber in ihnen lag auch eine Entschlusskraft, die vorher nicht da gewesen war.
Alaïs wünschte, sie müsste nicht zurück in ihr Gemach, aber das ließ sich nicht vermeiden. Vorsichtig stieg sie über François hinweg und ging über den Hof zurück in die Wohnräume. Es war niemand zu sehen.
Orianes treuer Schatten Guirande lag schlummernd auf dem Boden vor dem Zimmer ihrer Schwester, als Alaïs auf Zehenspitzen vorbeischlich. Das hübsche Schmollgesicht der Dienerin war im Schlaf erschlafft.
Die Stille, die sie empfing, als sie ihr Zimmer betrat, verriet ihr, dass die Pflegerin nicht mehr da war. Wahrscheinlich war sie aufgewacht, hatte gesehen, dass ihr Schützling verschwunden war, und sich davongemacht.
Um keine Zeit zu vergeuden, machte Alaïs sich gleich an die Arbeit. Wenn ihr Plan gelingen sollte, musste sie jedermann davon überzeugen, sie sei zu schwach, um sich weit von zu Hause fortzuwagen. Niemand am Hof durfte wissen, dass sie nach Montpellier wollte.
Aus der Kleidertruhe holte sie ihr leichtestes Jagdgewand, rotbraun wie ein Eichhörnchen feil, mit hellen, steingrauen, maßgeschneiderten
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