Das Verlorene Labyrinth
ihn einfach fest zwischen Daumen und Zeigefinger, wie einen Talisman.
Er musste unentwegt an Alaïs denken. Seine Gedanken schwankten hin und her, wie eine Waage. Einen Moment lang bedauerte er, sie überhaupt ins Vertrauen gezogen zu haben. Aber wenn nicht Alaïs , wen dann? Es gab sonst niemanden, dem er trauen konnte. Gleich darauf fürchtete er, ihr zu wenig erzählt zu haben. So Gott wollte, würde alles gut werden. Falls ihr Bittgesuch beim Comte von Toulouse wohlwollend aufgenommen wurde, würden sie, noch ehe der Monat vorüber war, im Triumph nach Carcassonne zurückkehren, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen worden war. Was Pelletier selbst anging, so würde er Simeon in Beziers aufsuchen und herausfinden, wer diese »Schwester« war, die Harif in seinem Brief erwähnte.
Falls das Schicksal es so wollte.
Pelletier seufzte. Er betrachtete das friedliche Bild, das sich ihm bot, und sah in seiner Phantasie das Gegenteil. Statt der alten Welt, unverändert und unveränderlich, sah er Chaos und Verwüstung und Zerstörung. Das Ende aller Dinge.
Er neigte den Kopf. Er hätte nicht anders handeln können. Falls er nicht nach Carcassonne zurückkehrte, würde er wenigstens in dem Bewusstsein sterben, dass er sein Bestes getan hatte, um die
Trilogie zu schützen. Alaïs würde ihre Verpflichtungen erfüllen. Sein Schwur würde ihr Schwur werden. Das Geheimnis würde nicht in der Hölle der Schlacht verloren gehen oder in einem französischen Kerker verrotten.
Die Geräusche aus dem Lager, das wieder zum Leben erwachte, holten Pelletier zurück in die Gegenwart. Es war Zeit zum Aufbruch. Bis zum Sonnenuntergang hatten sie noch viele Stunden im Sattel vor sich.
Pelletier schob Harifs Brief wieder in seinen Beutel und ging rasch zurück ins Lager, wohl wissend, dass solche Augenblicke der Ruhe und Stille in den Tagen, die vor ihm lagen, rar gesät sein würden.
Kapitel 19
A ls Alaïs erneut erwachte, lag sie zwischen Leinenlaken, nicht auf Gras. Sie hatte ein leises, dumpfes Pfeifen in den Ohren, wie Herbstwind, der durch den Wald streicht. Ihr Körper fühlte sich seltsam schwer und belastet an, als gehörte er nicht zu ihr. Sie hatte geträumt, dass Esclarmonde bei ihr war und ihr eine kühlende Hand auf die Stirn legte, um das Fieber herauszuziehen.
Ihre Augen öffneten sich flatternd. Über ihrem Kopf war der vertraute Baldachin ihres Bettes, und die dunkelblauen Nachtvorhänge waren zurückgebunden. Das Gemach war in das weichgoldene Licht der Abenddämmerung getaucht. Die Luft trug schon die Verheißung der Nacht in sich, obwohl sie noch immer heiß und drückend war. Sie nahm das schwache Aroma frisch verbrannter Kräuter wahr. Rosmarin und der Duft von Lavendel. Und sie hörte Frauenstimmen, heiser und leise, ganz in der Nähe. Sie flüsterten, als wollten sie Alaïs nicht wecken. Ihre Worte zischten wie Fett, das von einem Bratspieß ins Feuer tropft. Langsam drehte Alaïs den Kopf auf dem Kissen zu dem Geräusch hin. Alziette, die unbeliebte Ehefrau des Oberreitknechts, und Ranier, eine verschlagene und boshafte Klatschbase mit einem ungehobelten, tölpelhaften Mann, beide die reinsten Intrigantinnen, saßen neben dem kalten Kamin wie ein Paar alte Krähen. Ihre Schwester Oriane trug ihnen öfter Botengänge auf, aber Alaïs misstraute ihnen und konnte sich nicht erklären, wie sie in ihr Zimmer gekommen waren. Ihr Vater hätte das niemals erlaubt.
Dann fiel es ihr wieder ein. Er war nicht da. Er war nach Saint- Gilles oder Montpellier geritten, genau wusste sie das nicht mehr. Und Guilhem auch.
»Und, wo waren sie?«, zischelte Ranier mit sensationslüsternem Unterton.
»Im Obstgarten, unten am Bach bei den Weiden«, antwortete Alziette. »Mazelles Älteste hat sie runtergehen sehen. Und das kleine Biest ist schnurstracks zu ihrer Mutter gerannt. Dann kam Mazelle selbst in den Hof gefegt, hat händeringend irgendwas von Schande erzählt und wie unangenehm es ihr wäre, dass ausgerechnet sie es mir erzählen muss.«
»Die war doch schon immer eifersüchtig auf dein Mädchen, e. Ihre Töchter sind alle fett wie Mastsäue und voller Pockennarben. Alle wie sie da sind, hässlich wie die Nacht.« Ranier schob den Kopf näher heran. »Und was hast du dann gemacht?«
»Was blieb mir anderes übrig. Ich bin nachsehen gegangen. Hab sie auch sofort entdeckt. Schließlich hatten sie sich nicht großartig versteckt. Ich hab Raoul am Schopf gepackt - widerlich borstiges Haar hat er - und ihm ein paar
Weitere Kostenlose Bücher