Das Verlorene Labyrinth
einer Journalistin Beweis genug.
Und dennoch. Marie-Cécile öffnete die Augen.
Das eine oder andere in dieser Sache gab ihr zu denken. Die Art und Weise, wie Taverniers Indiskretion ans Licht gekommen war; die Tatsache, dass die Notizen der Journalistin erstaunlich präzise und zutreffend waren; der Umstand, dass die Journalistin selbst verschwunden war.
Am allerwenigsten aber behagte ihr der Zeitpunkt. Es gab keinen Grund, die Entdeckung der Höhle am Pic de Soularac mit einer bereits geplanten - und anschließend durchgeführten - Hinrichtung in Chartres in Verbindung zu bringen, doch in ihrem Kopf war das eine nicht vom anderen zu trennen.
Der Wagen wurde langsamer. Sie blickte auf und sah, dass der Fahrer auf die Mautstelle für die Autobahn zufuhr. Sie klopfte gegen die Scheibe. »Pour le péage«, sagte sie und reichte ihm mit manikürten Fingern einen zusammengerollten Fünfzig-Euro- Schein. Sie wollte keine Spur hinterlassen, indem sie mit Kreditkarte bezahlte.
Marie-Cécile hatte etwas in Avignonet zu erledigen, etwa dreißig Kilometer südöstlich von Toulouse. Von dort aus würde sie weiter nach Carcassonne fahren. Ihr Termin war um neun Uhr, obwohl sie vorhatte, früher einzutreffen. Wie lang sie in Carcassonne bleiben würde, hing von dem Mann ab, den sie dort treffen würde.
Sie schlug die langen Beine übereinander und lächelte. Sie war gespannt, ob er seinem Ruf gerecht wurde.
Kapitel 23
Carcassonne
K urz nach zehn Uhr trat der Mann, der sich Audric Baillard nannte, aus dem Bahnhof von Carcassonne und ging Richtung Stadt. Er war schmächtig und machte in seinem hellen Anzug einen distinguierten, wenngleich etwas altmodischen Eindruck. Er ging schnell, hielt dabei einen schlanken Gehstock aus Holz wie einen Stab in den dünnen Fingern. Sein Panamahut schützte die Augen vor dem grellen Licht.
Baillard überquerte den Canal du Midi und passierte das prächtige Hôtel Terminus mit seinen pompösen Art-déco-Spiegeln und verspielten Eisentoren. Carcassonne hatte sich enorm verändert. Die Beweise dafür sah er allenthalben, als er die Fußgängerzone entlangging, die sich durch das Herz der Basse Ville erstreckte. Neue Bekleidungsgeschäfte, pâtisseries, Buchläden und Juweliere. Wohlstand lag in der Luft. Die Stadt war wieder zu einem Anlaufpunkt geworden. In der Mitte der Dinge.
Der weiß gepflasterte Place Carnot glänzte in der Sonne. Das war neu. Der herrliche Brunnen aus dem 19. Jahrhundert war restauriert worden, das Wasser glitzernd klar. Auf dem Platz waren leuchtend bunte Caféstühle und -tische verteilt. Baillard sah zur Bar Félix hinüber und lächelte beim vertrauten Anblick der schäbigen Markisen unter den Linden. Wenigstens etwas hatte sich nicht verändert.
Er ging eine enge, geschäftige Seitenstraße hinauf, die zur Pont Vieux führte. Die braunen Schilder, die auf die historische Sehenswürdigkeit der befestigten, mittelalterlichen Cité hinwiesen, waren ein weiteres Indiz dafür, dass die Stadt die Kategorie »vaut le détour« im Michelin-Reiseführer hinter sich gelassen hatte und inzwischen zur internationalen Touristenattraktion und zum UNESCO-Weltkulturerbe geworden war.
Dann trat er wieder hinaus, und da war sie. Wie immer verspürte Baillard das wehe Gefühl der Heimkehr, obwohl es nicht mehr der Ort war, den er einst gekannt hatte.
Vor dem Zugang zum Pont Vieux war ein dekoratives Gitter aufgestellt worden, um den Verkehr fern zu halten. Die Zeiten, wo man sich flach gegen die Wand quetschen musste, um dem unaufhaltsamen Strom von Wohnwagen, Caravans, Lkws und Motorrädern zu entgehen, der sich über die enge Brücke wälzte, waren vorüber. Damals trugen die Steine und Mauern die Spuren von jahrzehntelanger Luftverschmutzung. Heute war die Brüstung sauber. Vielleicht ein wenig zu sauber. Doch der ramponierte, steinerne Jesus hing noch immer auf halber Höhe der Brücke wie eine Stoffpuppe an seinem Kreuz und markierte die Grenze zwischen der Bastide Saint-Louis und der befestigten Altstadt.
Baillard zog ein gelbes Taschentuch aus der Brusttasche und wischte sich sorgfältig unter der Hutkrempe über Stirn und Gesicht. Die Ränder des Flusses tief unter ihm waren üppig und gepflegt, mit sandfarbenen Wegen, die sich zwischen Bäumen und Büschen hindurchwanden. Am Nordufer waren zwischen weiten Rasenflächen hübsche Blumenbeete voller prächtiger, exotischer Blüten angelegt. Gut gekleidete Damen saßen auf den Metallbänken im Schatten der Bäume,
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