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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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schauten über das Wasser und plauderten, während ihre Hündchen geduldig neben ihnen hechelten oder nach den Waden vereinzelter Jogger schnappten. Der Pont Vieux führte direkt in das Quartier de la Trivalle, das sich von einem öden Vorort zum Eingangstor in die mittelalterliche Cité gemausert hatte. In die Bürgersteige waren in regelmäßigen Abständen schwarze schmiedeeiserne Geländer eingelassen, damit keine Autos dort parken konnten. Leuchtend orange, lila und karmesinrote Geranien quollen aus ihren Kübeln.
    Chromtische und -Stühle glänzten vor den Cafés, und verschnörkelte Straßenlaternen mit Kupfergehäuse hatten die alten Einheitslampen verdrängt. Sogar die alten Eisen- und Plastikregenrinnen, die immer undicht waren und durch starke Regenfälle und Hitze Risse bekamen, waren von schlanken Rohren aus gebürstetem Metall ersetzt worden, die unten die Form angriffslustiger Fischmäuler hatten.
    Die boulangerie und die alimentation générale hatten ebenso überlebt wie das »Hôtel du Pont Vieux«, doch die boucherie verkaufte jetzt Antiquitäten, und aus dem Gemischtwarenhandel war ein New-Age-Laden geworden, der Kristalle, Tarotkarten und Bücher zur spirituellen Erleuchtung anbot.
    Vor wie vielen Jahren war er zuletzt hier gewesen? Er wusste es nicht mehr.
    Baillard bog rechts in die Rue de la Gaffe ein und entdeckte auch hier Anzeichen dafür, dass sich das Viertel allmählich in eine schicke Gegend verwandelte. Die Straße, eher ein Gässchen, war gerade breit genug für ein Auto. An der Ecke war eine Kunstgalerie - »La Maison du Chevalier« - mit zwei großen Bogenfenstern, die von Metallgittern geschützt wurden, wie ein Fallgatter à la Hollywood. An der Wand hingen sechs bemalte Holzschilde, und neben der Tür war ein Eisenring in die Wand eingelassen, an dem die Leute ihre Hunde anbinden konnten, so wie früher ihre Pferde. Mehrere Türen waren frisch gestrichen. Er sah weiße Hausnummern aus Keramik mit blauen und gelben Umrandungen und feinen Blumenmustern. Hier und da waren Rucksacktouristen unterwegs, die mit Stadtplan und Wasserflasche bewaffnet stehen blieben, um in stockendem Französisch nach dem Weg in die Cité zu fragen, doch ansonsten war kaum jemand auf der Straße.
     
    Jeanne Giraud lebte in einem kleinen Haus, hinter dem der grasbewachsene Hang steil zu den mittelalterlichen Mauern hinaufführte. Auf diesem Straßenabschnitt waren nicht so viele Gebäude saniert worden. Manche waren baufällig oder mit
    Brettern vernagelt. Ein altes Ehepaar hatte Stühle aus der Küche geholt und saß nun draußen vor dem Haus. Baillard zog den Hut und wünschte ihnen einen guten Tag, als er an ihnen vorbeiging. Manche von Jeannes Nachbarn kannte er vom Sehen, und im Laufe der Jahre hatte er eine flüchtige Bekanntschaft zu ihnen aufgebaut.
    Jeanne saß vor der Haustür im Schatten und wartete auf seine Ankunft. In ihrer schlichten langärmeligen Bluse und dem gerade geschnittenen dunklen Rock sah sie adrett und tüchtig aus, wie immer. Sie trug das Haar zu einem Knoten im Nacken. Sie sah aus wie eine Lehrerin, was sie bis zu ihrer Pensionierung vor zwanzig Jahren auch gewesen war. In den Jahren, die sie einander nun kannten, hatte er sie nie anders als makellos und ordentlich gekleidet gesehen.
    Audric musste lächeln, als er daran dachte, wie neugierig sie anfänglich gewesen war. Ständig hatte sie Fragen gestellt. Wo er wohnte. Was er in den langen Monaten tat, wenn sie einander nicht sahen. Wohin er fuhr.
    Er reise viel, hatte er ihr erklärt. Um zu forschen und Material für seine Bücher zu sammeln, Freunde zu besuchen.
    Wen, hatte sie gefragt.
    Gefährten, mit denen er studiert und viele Erlebnisse geteilt hatte. Und er hatte ihr von seiner Freundschaft mit Grace erzählt. Eine Weile später hatte er ihr gestanden, dass er in einem Dorf in den Pyrenäen zu Hause war, nicht weit vom Montsegur. Doch ansonsten hatte er ihr nur sehr wenig von sich preisgegeben, und als die Jahrzehnte vergingen, hatte sie allmählich aufgehört, Fragen zu stellen.
    Jeanne war eine intuitive und methodische Forscherin, fleißig, sorgfältig und unsentimental, alles unschätzbar wertvolle Eigenschaften. In den letzten dreißig Jahren hatte sie an jedem seiner Bücher mitgearbeitet, vor allem an seinem letzen, der Biographie einer Familie von Katharern im Carcassonne des 13. Jahrhunderts.
    Für Jeanne war es gleichsam eine Detektivarbeit gewesen. Für Audric ein Liebesdienst.
    Als Jeanne ihn kommen sah,

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