Das Verlorene Labyrinth
verängstigt, Audric. Es ging nicht mit rechten Dingen zu. Man hat sich nicht an die üblichen Verfahrensweisen gehalten, und es waren alle möglichen Leute vor Ort, die da nichts zu suchen hatten. Er hat geflüstert, als hätte er Angst, belauscht zu werden.« »Wer hat alles mitbekommen, dass er in der Höhle war?«
»Ich weiß es nicht. Die Dienst habenden Beamten? Sein Vorgesetzter? Wahrscheinlich auch noch andere.«
Baillard betrachtete den Ring auf dem Tisch, dann streckte er den Arm aus und hob ihn auf. Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und neigte ihn zum Licht. Das auf der Unterseite eingravierte zarte Muster des Labyrinths war deutlich zu sehen. »Ist es der Ring?«, fragt Jeanne.
Audric antwortete nicht, weil er seiner Stimme nicht traute. Er konnte sein Glück nicht fassen, dass er den Ring tatsächlich in der Hand hielt. Und er fragte sich, ob es wirklich ein Glück war.
»Hat Yves gesagt, wo die Skelette hingebracht wurden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Könntest du ihn fragen? Und vielleicht könnte er dir eine Liste mit sämtlichen Personen geben, die gestern am Ausgrabungsort waren, als die Höhle entdeckt wurde.«
»Ich werde ihn fragen. Er hilft uns bestimmt, wenn er kann.« Baillard schob sich den Ring auf den Daumen. »Bitte sag Yves, wie dankbar ich ihm bin. Es muss ihn große Überwindung gekostet haben, den Ring an sich zu nehmen. Er hat ja keine Ahnung, von welch großer Bedeutung seine Geistesgegenwart vielleicht noch sein wird.« Er lächelte. »Hat er gesagt, was bei den Leichen noch alles gefunden wurde?«
»Ein Dolch, ein kleiner Lederbeutel ohne Inhalt, eine ...« »Vueg?«, sagte er ungläubig. »Leer? Aber das kann nicht sein.« »Inspektor Noubel, der leitende Beamte, hat die Frau, die die Höhle entdeckt hat, anscheinend gerade in diesem Punkt eindringlich befragt. Yves hat gesagt, sie ist eisern dabei geblieben, dass sie außer dem Ring nichts angefasst hat.«
»Und fand dein Enkel sie glaubwürdig?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Wenn ... jemand anderer muss es an sich genommen haben«, murmelte er nachdenklich mit gerunzelter Stirn. »Was hat Yves sonst noch über diese Frau gesagt?«
»Nicht viel. Sie ist Engländerin, Mitte bis Ende zwanzig, eine Freiwillige, keine Archäologin. Sie war auf Einladung einer Freundin in Foix, der stellvertretenden Ausgrabungsleiterin.«
»Hat er gesagt, wie sie heißt?«
»Taylor, glaube ich.« Sie zog die Stirn kraus. »Nein, nicht Taylor. Vielleicht Tanner. Ja, genau. Alice Tanner.«
Die Zeit blieb stehen. »Es vertat?« Ist das wahr? Der Name hallte ihm durch den Kopf. »Es vertat?«, flüsterte er erneut.
Hatte sie das Buch genommen? Es erkannt? Nein, nein. Er gebot sich selbst Einhalt. Das ergab keinen Sinn. Wenn das Buch, warum dann nicht auch den Ring?
Baillard drückte die Hände flach auf den Tisch, um das Zittern zu stoppen, dann blickte er Jeanne in die Augen.
»Meinst du, du könntest Yves fragen, ob er ihre Adresse hat? Ob er weiß, wo Madomaisèla - ?« Er verstummte, konnte nicht weiterreden.
»Ich kann ihn fragen«, antwortete sie, dann fügte sie hinzu: »Fühlst du dich nicht wohl, Audric?«
»Ich bin müde.« Er versuchte zu lächeln. »Mehr nicht.«
»Ich hätte gedacht, du würdest dich ... mehr freuen. Das ist - möglicherweise - die Krönung deiner jahrelangen Arbeit.«
»Es kommt so überraschend.«
»Die Neuigkeiten scheinen dich eher zu schockieren als zu begeistern.«
Baillard stellte sich vor, wie er wohl aussah: Augen zu hell, Gesicht zu fahl, Hände zittrig.
»Ich bin begeistert«, sagte er. »Und ich bin Yves überaus dankbar, und dir natürlich auch, aber ...« Er holte tief Luft. »Könntest du Yves vielleicht jetzt sofort anrufen? Ich würde mich gern persönlich mit ihm unterhalten. Mich mit ihm treffen.«
Jeanne stand vom Tisch auf und ging in die Diele, wo das Telefon auf einem Tischchen neben der Treppe stand.
Baillard blickte aus dem Fenster auf den Hang, der zu den Mauern der Cité hinaufführte. Ein Bild von ihr, wie sie bei der Arbeit sang, kam ihm in den Sinn, die Erinnerung an das Licht, das in hellen Streifen durch das Geäst der Bäume drang und das Wasser sprenkelte. Überall hier waren die Klänge und Gerüche des Frühlings; winzige Farbtupfer im Unterholz, blau und rosa und gelb, die satte, feuchte Erde und der betörende Duft der Buchsbaumbüsche auf beiden Seiten des steinigen Weges. Die Verheißung von Wärme und zukünftigen Sommertagen.
Er fuhr zusammen,
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