Das Verlorene Labyrinth
hob sie die Hand. »Audric«, lächelte sie. »Lange nicht gesehen.«
Er nahm ihre Hand zwischen seine. »Bonjorn.«
Sie trat zurück und musterte ihn von oben bis unten. »Du siehst gut aus.«
»Te tanben «, erwiderte er. Du auch.
»Du kommst früh.«
Er nickte. »Der Zug war pünktlich.«
Jeanne blickte entrüstet. »Du bist doch wohl nicht das ganze Stück vom Bahnhof zu Fuß gegangen?«
»So weit ist das gar nicht.« Er lächelte. »Und ich wollte mir auch ansehen, wie Carcassonne sich verändert hat, seit ich das letzte Mal hier war.«
Baillard folgte ihr in das kühle kleine Haus. Die braunen und beigefarbenen Fliesen auf dem Boden und an den Wänden verliehen allem ein dunkles, altertümliches Aussehen. Ein kleiner ovaler Tisch stand in der Mitte des Raumes. Seine lädierten Beine ragten unter einer gelb-blauen Wachstuchtischdecke hervor. In einer Ecke stand ein Schreibtisch mit einer altmodischen Schreibmaschine, daneben führte eine Verandatür auf eine kleine Terrasse.
Jeanne holte ein Tablett mit einem Krug Wasser, einer Schale Eis, einem Teller knuspriger, würziger Kräcker, einer Schale saurer grüner Oliven und einer Untertasse für die Kerne aus der Vorratskammer. Sie stellte das Tablett behutsam auf den Tisch und griff dann zu dem schmalen Holzbrett hinauf, das etwa in Schulterhöhe an der ganzen Wand entlang verlief. Ihre Hand schloss sich um eine Flasche Guignolet, einen bitteren Kirschlikör, den sie, wie er wusste, nur für seine seltenen Besuche im Haus hatte.
Das Eis knackte und klimperte gegen das Glas, als der hellrote
Alkohol über die Würfel rieselte. Eine Weile saßen sie in behaglichem Schweigen beisammen, wie sie es schon viele Male getan hatten. Gelegentlich waren von oben aus der Cité Wortfetzen zu hören, wenn das Touristenbähnchen seine regelmäßige Umrandung der Mauern beendete.
Audric stellte sein Glas vorsichtig auf den Tisch. »Also«, sagte er. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Jeanne zog ihren Stuhl näher an den Tisch. »Du weißt ja, dass mein Enkel Yves bei der Police Judiciaire ist, département de l'Ariège. In Foix stationiert. Gestern ist er zu einer archäologischen Ausgrabung in die Sabarthès-Berge gerufen worden, nicht weit vom Pic de Soularac, wo zwei Skelette entdeckt worden waren. Yves hat sich gewundert, dass seine Vorgesetzten die Sache so behandelten, als könnte es sich um einen Mordfall handeln, obwohl ganz klar war, wie er sagte, dass die Skelette schon ewig lange dort gelegen hatten.« Sie hielt inne. »Natürlich hat Yves die Frau, die die Toten gefunden hat, nicht selbst vernommen, aber er war dabei. Yves weiß ein bisschen über die Arbeit, die ich für dich mache, auf jeden Fall genug, um sich denken zu können, dass die Entdeckung dieser Höhle von größtem Interesse wäre.«
Audric stockte der Atem. So viele Jahre lang hatte er sich ausgemalt, wie er sich in diesem Augenblick fühlen würde. Er hatte nie den Glauben daran verloren, dass er die Wahrheit über jene letzten Stunden irgendwann erfahren würde.
Die Jahrzehnte gingen ineinander über. Er sah die Jahreszeiten in ihrem endlosen Kreislauf, sah, wie das Grün des Frühlings in das Gold des Sommers schlüpfte, wie die leuchtende Farbpalette des Herbstes unter dem gestrengen Weiß des Winters verschwand, sah das erste Tauwasser der Bergbäche im Frühjahr. Noch immer hatte er kein Wort gesagt. E ara? Und jetzt?
»Ist Yves selbst in die Höhle gegangen?«, fragte er.
Jeanne nickte.
»Was hat er gesehen?«
»Da war ein Altar. Dahinter war das Symbol des Labyrinths, in den Felsen geschlagen.«
»Und die Toten? Wo waren sie?«
»In einem Grab, eigentlich kaum mehr als eine Senke im Boden, vor dem Altar. Zwischen den Skeletten lagen ein paar Gegenstände, aber mehr konnte er nicht erkennen, weil zu viele Leute da waren und er nicht nah genug rankam.«
»Wie viele Skelette waren es?«
»Zwei.«
»Aber das ...« Er stockte. »Egal, Jeanne. Bitte erzähl weiter.« »In der Nähe der ... Skelette hat er das hier gefunden.«
Jeanne schob einen kleinen Gegenstand über den Tisch.
Audric rührte sich nicht. Nach so langer Zeit hatte er Angst, ihn zu berühren.
»Gestern am späten Nachmittag hat Yves mich vom Postamt in Foix aus angerufen. Die Verbindung war schlecht, und ich konnte ihn nur schwer verstehen, aber er hat gesagt, dass er den Ring genommen hat, weil er den Leuten, die danach suchen, nicht traut. Er klang besorgt.« Jeanne schwieg kurz. »Nein, er klang
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