Das Verlorene Labyrinth
weiteren Leben anfangen wollte. Ursprünglich hatte er vorgehabt, durch Frankreich und Spanien zu reisen, um Ideen zu sammeln, sich inspirieren zu lassen, doch seit er in Chartres war, hatte er kaum einen Satz geschrieben. Seine Themen waren Rebellion, Zorn und Angst, die unheilige Dreifaltigkeit des amerikanischen Lebens. Zu Hause hatte er jede Menge gefunden, wogegen er wettern konnte. Hier fehlten ihm auf einmal die Themen. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war Marie-Cecile, und dieses Thema war tabu.
Er trank den letzten Schluck Milch und warf die Plastikflasche in den Mülleimer. Nach einem abschließenden Blick über den Tisch beschloss er, auswärts zu frühstücken. Bei der Vorstellung, jetzt mit Frangois-Baptiste höfliche Konversation zu machen, drehte sich ihm der Magen um.
Will trat aus dem Flur zur Küche. In der hohen Eingangshalle war nur das gleichmäßige Ticken der kostbaren Standuhr zu hören.
Rechts von der Treppe führte eine schmale Tür hinunter zu den weitläufigen Weinkellern unter dem Haus. Will schnappte sich seine Jeansjacke vom Geländerpfosten und wollte schon durch die Halle zur Haustür gehen, als ihm auffiel, dass einer der Wandteppiche schief hing. Er war nur ein klein wenig aus dem Lot, doch in der perfekten Symmetrie der holzgetäfelten Halle sah man das sofort.
Will hob die Hand, um ihn gerade zu rücken, dann stockte er. Hinter dem polierten Holz war ein senkrechter dünner Lichtstreifen zu sehen. Er blickte zu dem Fenster über der Tür hoch, obwohl er wusste, dass um diese Zeit noch kein Sonnenstrahl in die Halle fiel.
Es sah so aus, als käme das Licht hinter der dunklen Holztäfelung hervor. Verwundert hob er den Teppich von der Wand ab. Perfekt dem Muster des Holzes angepasst war eine schmale Tür, die bündig mit der Täfelung abschloss. Ein kleiner, in das Holz eingelassener Messingriegel hielt sie geschlossen, und sie hatte einen flachen, halbrunden Griff. Alles sehr diskret.
Will zog an dem Riegel. Er war gut geölt und glitt leicht auf. Ein sanftes Quietschen, dann sprang die Tür auf, und ein feiner Geruch nach unterirdischen Orten und geheimen Kellerräumen drang ihm in die Nase. Mit den Händen am Türrahmen spähte er in den Raum dahinter und sah sogleich, wo das Licht herkam. Eine einsame, mattierte Glühbirne hing über einer steilen Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führte.
Gleich hinter der Tür entdeckte er zwei Lichtschalter. Der eine war für die Birne über der Tür; als er den anderen betätigte, leuchtete eine Reihe von schwachen gelben Kerzenglühbirnen auf, die an Metallspitzen entlang der Steinwand links von der Treppe hingen. Auf beiden Seiten diente jeweils ein blaues Seil, das durch schwarze Metallringe gezogen war, als Handlauf. Will trat auf die erste Stufe. Die Decke war niedrig, eine Mischung aus alten Ziegeln und behauenem Stein, nur wenige Zentimeter über Wills Kopf. Es war eng, aber die Luft war klar und frisch und vermittelte ihm nicht das Gefühl eines längst vergessenen Ortes.
Je tiefer er hinunterstieg, desto kälter wurde es. Zwanzig Stufen und noch mehr. Die Atmosphäre war jedoch nicht feucht, und obwohl er keine Ventilatoren oder Lüftungsschächte sah, schien von irgendwoher frische Luft zu kommen.
Unten angekommen, stellte Will fest, dass er in einem kleinen Vorraum stand. An den Wänden war nichts, kein Schild oder sonst irgendetwas, bloß hinter ihm die Treppe und vor ihm eine Tür, ebenso breit und hoch wie der Gang. In dem elektrischen Licht leuchtete alles in einem kränklichen Gelb.
Als Will auf die Tür zuging, kam der erste Adrenalinstoß.
Der klobige, altmodische Schlüssel im Schloss ließ sich leicht drehen. Sobald er durch die Tür trat, änderte sich die Atmosphäre schlagartig. Kein Betonboden mehr. Stattdessen ein dicker burgunderroter Teppich, der das Geräusch seiner Schritte verschluckte. Statt der funktionalen Beleuchtung gab es hier kunstvolle Wandleuchter aus Metall. Die Wände bestanden noch immer aus derselben Mischung von Ziegeln und Steinen, doch jetzt waren sie mit Wandteppichen behängt, Bilder von mittelalterlichen Rittern, Frauen mit Porzellanteint und Priester in weißen Kapuzenroben, die Köpfe geneigt, die Arme ausgestreckt.
Es roch jetzt auch leicht anders. Weihrauch, ein süßlicher, berauschender Duft, der ihn an längst vergangene Weihnachts - und Osterfeste seiner Kindheit erinnerte.
Will blickte zurück über die Schulter. Der Anblick der Treppe jenseits der offenen
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