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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Telefonnummer in ihrer Tasche. Aber das hast du dir nicht eingebildet.
    Alice schob den Gedanken beiseite. Sie wollte positiv denken, nach vorn schauen. Das Beste daraus machen, dass sie nun schon einmal in Toulouse war.
    Sie bummelte durch die Gässchen und Passagen der Altstadt, ließ sich von ihren Füßen lenken. Die kunstvollen Fassaden der rötlichen Naturstein- und Ziegelbauten waren elegant und diskret. Die Namen der Straßenschilder und Brunnen und Monumente kündeten von Toulouse' langer und glorreicher Geschichte. Heerführer, mittelalterliche Heilige, Poeten des 18. Jahrhunderts, Freiheitskämpfer des 20. Jahrhunderts, die ehrwürdige Vergangenheit der Stadt von den Römern bis zur Gegenwart. Alice betrat die Kathedrale Saint-Etienne, auch um nicht mehr der Sonne ausgesetzt zu sein. Sie mochte die Ruhe und den Frieden in großen Kirchen, was sie ihren Eltern verdankte, die sie schon als Kind mit auf Besichtigungen genommen hatten. Sie machte einen angenehmen halbstündigen Rundgang, las die Tafeln an den Wänden und sah sich die Bleiglasfenster an. Allmählich wurde Alice hungrig, und sie beschloss, sich noch den Kreuzgang anzuschauen und dann irgendwo etwas essen zu gehen. Sie war gerade ein paar Schritte gegangen, als sie ein Kind weinen hörte. Sie blickte sich um, sah aber niemanden. Mit einem leicht beklommenen Gefühl ging sie weiter. Das Schluchzen schien lauter zu werden. Jetzt konnte sie jemanden flüstern hören. Eine Männerstimme, ganz nah, zischte ihr ins Ohr.
    » Hérétique , hérétique ...«
    Alice fuhr herum. »Hallo? Allô? Il y a quelqu'un?«
    Es war niemand zu sehen. Wie ein bösartiges Flüstern ging ihr das Wort immer und immer wieder durch den Kopf. »Hérétique, hérétique.«
    Sie presste sich die Hände auf die Ohren. An den Säulen und grauen Steinwänden schienen Gesichter aufzutauchen. Verzerrte Münder, verkrampfte, Hilfe suchende Hände schoben sich aus jedem versteckten Winkel.
    Dann erhaschte Alice einen Blick auf jemanden weiter vorn. Eine Frau in einem langen grünen Gewand und einem roten Umhang verschwand immer wieder im Schatten. In der Hand trug sie einen Weidenkorb. Alice rief nach ihr, um sie auf sich aufmerksam zu machen, doch da traten drei Männer, Mönche, hinter einem Pfeiler hervor. Die Frau schrie auf und wehrte sich, als die Mönche sie packten und wegzerrten.
    Alice wollte etwas rufen, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Nur die Frau schien sie zu hören, denn sie wandte sich um und sah Alice direkt in die Augen. Jetzt umringten die Mönche die Frau. Sie reckten ihre massigen Arme über sie wie schwarze Schwingen.
    »Lasst sie los«, schrie Alice und rannte auf sie zu. Doch je weiter sie lief, desto mehr entfernten sich die Gestalten, bis sie schließlich ganz verschwunden waren. Es war, als wären sie mit der Wand des Kreuzgangs verschmolzen.
    Verwirrt strich Alice mit beiden Händen über die Steinfläche. Sie blickte nach links und rechts, suchte nach einer Erklärung, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Schließlich übermannte sie die Panik. Sie rannte zu dem Ausgang, der auf die Straße führte, rechnete jeden Moment damit, die Männer in den schwarzen Kutten hinter sich zu sehen, von ihnen verfolgt und gepackt zu werden.
    Draußen war alles wie vorher.
    Ist ja gut. Alles in Ordnung. Schwer atmend ließ Alice sich mit dem Rücken gegen die Kirchenmauer sinken. Als sie ihre Fassung wiedergewann, wurde ihr plötzlich klar, dass sie nicht mehr von Furcht erfüllt war, sondern von Trauer. Sie brauchte kein Geschichtsbuch, um zu wissen, dass an diesem Ort etwas Schreckliches geschehen war. Hier herrschte eine Atmosphäre des Leidens, Narben, die nicht durch Beton oder Stein verdeckt werden konnten. Die Geister erzählten ihre eigene Geschichte. Als Alice eine Hand ans Gesicht hob, merkte sie, dass sie weinte.
    Sobald ihre Beine wieder stark genug waren, sie zu tragen, ging sie zurück ins Stadtzentrum. Sie war entschlossen, möglichst viel Abstand zwischen sich und Saint-Etienne zu bringen. Sie konnte sich nicht erklären, was mit ihr los war, aber sie würde sich nicht einschüchtern lassen.
    Das normale Alltagsgeschehen um sie herum beruhigte sie, und sie gelangte auf einen kleinen, autofreien Platz. Rechter Hand war eine Brasserie mit einer alpenveilchenrosa Markise und Reihen von glänzenden silbernen Stühlen und runden Tischen auf dem Trottoir.
    Alice erwischte den letzten freien Tisch und versuchte, nachdem sie bestellt hatte, bewusst,

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