Das verlorene Land
fand der Emir es schwierig, seine Rolle als Anführer im Heiligen Krieg zu verklären, wenn er diesen Krieg aus dem verlassenen Büro eines toten Heiden führen musste. Ein wenig Romantik hätte ihm durchaus gutgetan, denn im Augenblick lief alles ziemlich schlecht.
Umgeben von seinen Offizieren, stand der Emir vor dem billigen Schreibtisch und beugte sich über einen großen Stadtplan von Manhattan. Von seinem Platz aus, wo er sich mit den Fäusten auf dem New Jersey Turnpike und den oberen Ausläufern des Central Park abstützte, konnte er in einer Ecke des Büros einen zerbrochenen Bilderrahmen mit einem Foto liegen sehen. Darauf waren eine hübsche blonde Frau und zwei Kinder in Cowboymontur zu sehen, alle drei lächelten fröhlich. Sehr wahrscheinlich war das die Familie des Mannes gewesen, der einst hier gearbeitet hatte.
Das Foto erinnerte den Emir daran, dass dies nicht einfach nur eine Blutfehde mit einem alten Gegner war. Das natürlich auch, aber vor allem ging es darum, jenen Menschen, die den »Zweiten Holocaust« überlebt hatten, eine neue Heimat zu geben. Viele seiner Krieger hatten ihre Familien mitgebracht, nicht weil sie es wollten, sondern weil es in der alten Welt keinen Platz mehr für sie gab. Das galt vor allem für jene, die aus Großbritannien verjagt worden waren.
Glücklicherweise waren die Familienangehörigen im Augenblick in Sicherheit. Er hatte sich im Geheimen schon Sorgen darüber gemacht, dass die Amerikaner die provisorischen Dörfer bombardieren könnten, die sie für ihre Frauen und Kinder errichtet hatten, aber die waren offenbar noch nicht entdeckt worden. Trotz allem war dieses Land zurzeit sehr weitläufig und sehr leer.
Doch als er nun einen zweiten Blick auf den Plan warf, fragte er sich, ob sie noch lange in Sicherheit bleiben würden.
»Es wäre besser gewesen, wir hätten unseren ursprünglichen Plan beibehalten«, sagte er.
»Nein«, beharrte Abu Dujana, ein Indonesier, der ohne seine Sippe mitgekommen war. »Es war die seltene Gelegenheit, der Giftnatter den Kopf abzuschlagen, und es war richtig, dass Ihr angegriffen habt. Wir haben alle zugestimmt, genauso wie wir jetzt einer Meinung sind.«
Dujana warf den umstehenden Männern einen prüfenden Blick zu und suchte nach einem Anzeichen für Widerspruch, aber das gab es nicht. Nachdem sie erfahren hatten, dass Präsident Kipper in New York war, hatte der Emir jeden von ihnen befragt und alle Meinungen bedacht, bevor er sich dazu entschieden hatte, den Angriff zu befehlen.
»Hat nicht der Prophet selbst von uns verlangt, dass wir die Ungläubigen bekämpfen und töten, wann immer und
wo immer wir auf sie treffen?«, fragte Dujana. »Sich auf die Lauer zu legen und anzugreifen und alle Möglichkeiten der Kriegsführung zu nutzen?« Die vier Offiziere kannten die Worte des Korans sehr genau und nickten zustimmend.
Der Emir richtete sich auf und bemühte sich, ein wenig Abstand zu den krisenhaften Entwicklungen zu bekommen. Er brauchte Zeit, um zu überlegen, wie er aus dieser Sackgasse wieder herauskam. Er war noch sehr jung für jemanden, der ein derart folgenreiches Unternehmen leiten sollte, aber genauso gut in Form wie alle anderen Männer unter seinem Kommando. Doch nun war er müde und machte sich Sorgen. Das Problem war, dass er im Gegensatz zum Propheten kein Talent zum Anführer einer Kampftruppe hatte, das war auch nie sein Ehrgeiz gewesen. Deshalb hatte er sich mit Männern wie Dujana umgeben, die berühmt dafür waren, dass sie die indonesische Diktatur bis vor die Tore des Präsidentenpalasts zurückgedrängt hatten. Der Emir plagte sich nicht mit falscher Bescheidenheit. Er wusste, dass man das Talent besitzen musste, fähige Männer, sogar Frauen, wenn es sein musste, zu inspirieren. Und dieses Talent hatte Gott ihm gegeben. Soldaten auf das Schlachtfeld zu führen, vor allem in einer schwierigen Umgebung wie der Stadt New York, erforderte ganz andere Fähigkeiten, und die besaß er nicht.
Amin Bashir, ein Deutscher wie er, der aber sogar über Erfahrungen im Straßenkampf verfügte, deutete auf eine Gegend des Plans, das südliche Ende der Insel von Manhattan. Amin hatte seine ganze Familie bei sich. Drei seiner fünf Söhne kämpften mit ihm, und der Emir wusste, dass er sie alle opfern würde, wenn es sein musste.
»Diese düstere Stimmung passt nicht zu dem, was wir in dieser Schlacht erreicht haben«, sagte Bashir. »Wir dienen Gott nicht, wenn wir unsere Gegner unterschätzen. Genau wie
Weitere Kostenlose Bücher