Das verlorene Land
Geräte schweifen, die auf einem behelfsmäßigen Verkaufstresen neben der Tür angeboten wurden. Eine Menge japanischer Marken waren darunter, die zu irrwitzig niedrigen Preisen verramscht wurden, was ein Hinweis darauf sein konnte, dass sie aus den USA kamen, wahrscheinlich aus Warenhäusern an der Ostküste. Das war ihr im Grunde genommen egal, aber sie speicherte die Information für alle Fälle. Irgendjemand bei Echelon würde aus diesen Beobachtungen
vielleicht einen Aktenvermerk machen. Für solche bürokratischen Dinge waren die Briten immer zu haben.
Mirsaad kam zu ihr zurück, schaute sie verlegen an und hielt ein weißes Hemd hoch. »Das musste ich leider kaufen.«
Caitlin sagte nichts, schenkte ihm aber ein Lächeln, das er nur in ihren Augen ablesen konnte.
»Möchtest du dich noch ein bisschen umsehen?«, fragte er.
»Vielleicht bei den Elektroniksachen«, sagte sie leise, um ihrer Rolle gerecht zu werden. »Ich hätte gern ein kleines Radio … für mein Schlafzimmer.«
Nachdem sie einige Minuten lang die gestohlenen Fernseh- und Mikrowellengeräte der angrenzenden Geschäfte angeschaut hatte, war ihr Verdacht bestätigt. Die Märkte in Neukölln waren so reichhaltig bestückt, weil die Verkäufer ihre Waren umsonst oder höchstens für den Preis der Plünderung und des Transports nach Europa bekamen, und der war bis letzte Woche beinahe nebensächlich gewesen. Es wäre sicherlich interessant, in einem Monat wieder herzukommen, um herauszufinden, ob die Manhattan-Offensive von Präsident Kipper einen Einfluss auf das Angebot hatte, oder ob die Händler hier neue Bezugsquellen fanden. Die Kämpfe in New York waren zwar sehr heftig, aber es gab noch Tausende von Meilen unbewachter Atlantikküste in den USA, wo sich Hunderte von Städten und Großstädten befanden, die für die Plünderer eine leichte Beute darstellten.
Als sie wieder ins Auto einstiegen und vorsichtig ausgeparkt hatten, holte Caitlin ihr Portemonnaie heraus und gab ihm fünfzig Euro.
»Tut mir leid, dass du gezwungen warst, Diebesgut zu kaufen«, sagte sie. »Ich kann das natürlich bezahlen. Du hast das gut gemacht.«
Er sah aus, als wollte er Einspruch erheben, aber sie bestand darauf, dass er das Geld nahm.
»Nein, Sally. Du hast Kinder, die du ernähren musst, und es werden heute wahrscheinlich noch einige andere Ausgaben anstehen. Für die komme ich selbstverständlich auch auf. Ich hab einen Auftrag, und die Spesen werden mir ersetzt. Für dich gilt das nicht.«
»Also gut«, sagt er dankbar. »Ich hab ihn immerhin ein bisschen runterhandeln können wegen dieses Hemdes. Nicht so weit, wie Laryssa es wahrscheinlich geschafft hätte, wenn sie dabei gewesen wäre, aber immerhin …«
»Nimm trotzdem die fünfzig Euro«, sagte Caitlin. »Wie schon gesagt – für mich sind das Spesen. Und jetzt lass uns mal die Gegend erkunden, wie meine Auftraggeber sagen würden.«
Neukölln war eine Enklave im wahrsten Sinne des Wortes, aber als Ghetto konnte man das Viertel nicht bezeichnen, denn die Bewohner hatten eigenständig die Wahl getroffen, sich von der Außenwelt abzuschließen, und waren nicht dazu gedrängt worden, wie das zum Beispiel in London der Fall war. Das erklärte auch, warum dieser Stadtteil so energiegeladen wirkte, was normalerweise in Ghettos ja nicht der Fall war. Die hier Ansässigen übten selbst die Macht aus und waren nicht das willenlose Objekt einer fremden Obrigkeit. Aber es kam noch mehr hinzu. Während sie herumfuhren und die Lebendigkeit und Intensität des Straßenlebens betrachteten – auch wenn es geradezu mittelalterlich und bigott wirkte -, kam Caitlin zu dem Schluss, dass der Motor der hiesigen Wirtschaft zweifellos von einer primitiven, aber wirkungsvollen Umkehr des Kolonialismus angetrieben wurde. Sie lebten von den Reichtümern, die sie in einem anderen Land erbeutet hatten, in diesem Fall in den USA und in Kanada. Die kanadische Regierung in Vancouver war auch nicht erfolgreicher
bei der Sicherung und Wiederbesiedelung der östlichen Provinzen als Seattle.
Mirsaad fuhr sie eine halbe Stunde lang herum, damit sie ein Gefühl für den Ort bekommen konnte. Dreimal durchquerten sie das Zentrum des Viertels. Dort befanden sich Märkte, die weitaus üppiger ausgestattet waren als die Stände, die sie zuerst besucht hatten. Ein Kaiser’s Supermarkt war zu einem Gebetshaus umfunktioniert worden, vor dem sich Hunderte von Menschen zusammenfanden, um im warmen Licht des Morgens miteinander zu
Weitere Kostenlose Bücher